Von Ralf Keuper
Die Frage scheint rein akademischer Natur zu sein: Handelt es sich bei dem Wandel im Banking, den wir derzeit erleben, um einen Paradigmenwechsel und nicht um einen Stilwandel, also eher um eine Revolution und weniger um eine Transformation?
Auf diese Frage stieß ich eher zufällig durch den Hinweis auf einen Vortrag, den Anne C. Shreffler vor einigen Monaten in Bern mit dem Titel Paradigmenwechsel oder nur Stilwende?Historiographische Überlegungen zur Komposition im 20. und 21. Jahrhundert gehalten hat.
Darin bezieht sie sich auf die Definition, die Thomas S. Kuhn in seinem Klassiker Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen für das Paradigma bzw. den Paradigmenwechsel verwendet hat. Ein Paradigma, eine vorherrschende wissenschaftliche Theorie, wie in der Ökonomie die Neoklassik, wird demnach erst dann von einem neuen ersetzt, wenn die alte Garde der Wissenschaftler von der Bühne abgetreten ist. Also Revolution dank Biologie. Der Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck, auf den sich Kuhn in seinen Arbeiten bezog, gebrauchte in dem Zusammenhang den Ausdruck “Denkkollektiv”. Denkkollektive bevorzugen bzw. bilden einen bestimmten Denkstil heraus.
Haben wir es im Banking mit einem Umbruch in dem von Kuhn gemeinten Sinn zu tun? Steht die alte Garde den Veränderungen im Weg und ist die neue Generation schon in den Startlöchern und bereit zur Staffelübergabe?
Mit Blick auf die wachsende FinTech-Startup-Szene könnte man von den Vertretern einer neuen Generation im Banking sprechen. Die Geschäftsmodelle sind dabei nicht immer “disruptiv”, umwälzend, ausgelegt, sondern häufig als mit den Banken kompatibel beabsichtigt.
Als alte Garde wären demzufolge die aktuell in der Verantwortung stehenden Banker zu verstehen, die ihre gesamte berufliche Laufbahn in einer Bank oder innerhalb der Bankenbranche verbracht haben und sich eine andere Welt nicht mehr vorstellen können oder wollen. Ein typischer Generationenkonflikt also?
Auf der anderen Seite haben wir es mit Unternehmen zu tun, die, wie die großen Internetkonzerne, von ähnlichen Organisations- und Machtstrukturen geprägt sind und in etwa von derselben Generation geführt werden, wie in den Banken. Und auch die anderen branchenfremden Herausforderer sind in der Mehrzahl gesetzte, etablierte Unternehmen.
Die Generationenfrage alleine kann also nicht als Beleg für einen Paradigmenwechsel stehen.
Eher ist es die Fülle von Veränderungen, die sich derzeit in den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen vollzieht, die für einen tiefgreifenden Wandel sprechen: Der häufig erwähnte Wertewandel, die Verbreitung des Internet, die Verlagerung auf “mobile” Kanäle (Smartphone, Tablet PC), die veränderte Mediennutzung (Streaming statt TV, Informationssuche über Suchmaschinen oder soziale Netzwerke), rechtliche und regulatorische Bestimmungen (Basel III, MiFid, SEPA, Datenschutz, Urheberrecht) und weitere sich ändernde Rahmenbedingungen.
Aber reicht das aus für einen Paradigmenwechsel, für eine Revolution, oder trifft es der Begriff Stilwandel nicht doch (noch)?
Vor einiger Zeit habe mir auf diesem Blog einige Gedanken zu einer Stilgeschichte des Banking gemacht, wobei ich weitgehend den Ausführungen von Friedrich Jodl gefolgt bin:
Friedrich Jodl unterscheidet die autochtonen Stile, die Übergangsstile und die originalen Stile. So weit ich sehen kann, haben wir es derzeit vorwiegend mit der zweiten Phase zu tun, d.h. den Übergangsstilen. Dazu schreibt Jodl:
Neben den autochthonen Stilen stehen zunächst alle diejenigen Kunstreiche, die wir als Übergangsstile oder gemischte Stile bezeichnen müssen, weil sie durch den Zusammenfluss zweier oder mehrerer Kulturkreise und deren künstlerischer Ausdrucksformen entstanden sind, die Elemente, die zu ihrer Bildung zusammengetreten sind, noch deutlich erkennen lassen und daher mehr ein Aggregat als eine neue höhere Einheit darstellen.
Richtig interessant wird es m.E. erst, wenn ein neuer, originaler Bankstil auf der Bildfläche erscheint. Allerdings ist das in Kunst- bzw. Kulturgeschichte der Menschheit nur sehr selten vorgekommen. Aber – wer weiß ..
Wir haben es m.E. im Banking mit einem Übergangsstil zu tun. Für einen originalen Stil bedarf es noch weiterer Zutaten. Die digitalen Währungen, vor allem die sie unterstützende Blockchain-Technologie, könnten das oder eines der dazu noch fehlenden Elemente sein. Das könnte eine neue Zeitschicht (Reinhart Koselleck) des Banking sein.
Dann hätten wir einen Paradigmenwechsel, wenngleich dieser Begriff, wie Klaus Bartels schreibt, inzwischen überstrapaziert wird:
In jüngster Zeit ist das «Paradigma» in Gestalt jenes wissenschaftstheoretischen «Paradigmenwechsels» aus der lateinischen in die politische Grammatik übergesprungen und zum gewichtigen Hieb- und Stichwort im politischen Diskurs geworden. Die Paradigmen verwechseln und dann falsch deklinieren oder konjugieren, das sollte hier bedeuten: die Bezugssysteme verwechseln und dann zu falschen Schlussfolgerungen und Entscheidungen kommen. Mittlerweile ist das Wort auch für weniger tiefgreifende Politikwechsel in Mode gekommen. Greek is beautiful, Wechsel ist gefährlich; und mit dem schicken, rätselhaften Vortrab dieses «Paradigmen-» fällt der mahnende Einspruch gegen den Wechsel gleich viel edler ins Ohr.
So viel steht jedoch fest: Das für das Banking relevante Bezugssystem verändert sich. Die Auswirkungen äußerer Einflüsse werden von den Banken nicht mehr wie sonst innerhalb der eigenen Branchengrenzen aufgefangen und umgewandelt, sondern von branchenfremden Anbietern aufgegriffen und, wie im Fall der großen Internetkonzerne, in die eigenen Bahnen gelenkt und mit neuen Symbolen versehen, mit neuer Bedeutung aufgeladen.
Dieses neue Bezugssystem übt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Banking aus. Wer dagegen noch immer das alte Bezugssystem zum Maßstab nimmt, droht den Anschluss zu verlieren.