In den Jahren unmittelbar nach der Finanzkrise beherrschte die Frage nach der Moral der Märkte die öffentliche Diskussion. Allgemeiner Tenor war, dass bestimmte Institutionen, hier vor allem zahlreiche (Investment-)Banken, und deren Vertreter sich unmoralisch verhalten hätten. Hervorstechende Charaktermerkmale der handelnden Personen waren demzufolge Gier und Eigennutz. Nur die eigenen Boni im Blick, vergaß man schnell bzw. ignorierte man die Auswirkungen des eigenen Tuns auf die allgemeine Wohlfahrt. Als dann einige Banken “gerettet” werden mussten, machte der Spruch “Gewinne werden privatisiert, Verluste dagegen sozialisiert” die Runde. Seitdem steht der (Finanz-)Kapitalismus einmal mehr in seiner Geschichte unter Rechtfertigungsdruck. Forderungen nach einer neuen Ethik, welche die Aufgabe hat, die unmoralischen Tendenzen der Märkte zu zügeln, wurden laut.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Gedanke zunächst recht gewöhnungsbedürftig, ausgerechnet die Ökonomie zur Grundlage einer neuen Ethik zu machen. Genau das fordert Matthias Wühle in seinem Buch Die Moral der Märkte. Warum Ethik neu gedacht werden muss.
Seine These fasst Wühle in die Worte:
Sollte die Ethik überleben, dann nur, wenn sie von religiösen und metaphysischen Elementen der letzten Jahrhunderte befreit und auf naturwissenschaftliche Grundlagen gestellt wird. Nachdem die Wirtschaft und somit auch die Ökonomie als die Theorie der Wirtschaft einen rasanten Aufstieg erlebt hat, stellt sich die Frage, ob sie nicht mehr sein kann, als eine reine Spartenwissenschaft. Ist nicht die Wirtschaft die Lehre von der Ordnung und der Funktion einer Gesellschaft? Ist eine gute Wirtschaft nicht die notwendige Voraussetzung für eine gute Gesellschaft? Sollte dies bejaht werden, dann liegt auch die Überlegung nahe, Ökonomie auch als Grundlage der Ethik in Betracht zu ziehen. Denn Ethik stellt die Begründungsinstanz einer geordneten Gesellschaft dar.
Besonders geeignet, seine These zu untermauern, sind nach Wühle die Neue Institutionenökonomie und die Spieltheorie. Daneben greift Wühle einige zentrale Aussagen von Niklas Luhmann über die Funktionsweise der Wirtschaft sowie Elemente der Diskurstheorie von Habermas auf. Ebenso finden Karl Popper und Karl Homann Erwähnung.
Einigendes Band ist die Annahme der Selbstdurchdringung der Moral in der Ökonomie:
Weil Ökonomie etwas ist, das niemand erfunden und niemand geschaffen hat, sondern aus sich selbst heraus entstanden ist, ist es – zumindest in der Theorie – vom Makel des Konstruktionsfehlers befreit .. Hinzu kommt: Ein System selbst etablierender Regeln ist das einzige System, dass weder metaphysisch noch dogmatisch begründet werden muss, sondern das sich allen durch sich selbst erklärt. … Hierin, in der Selbstdurchdringung der Ökonomie als Institution findet sich der entscheidende Anstoß einer Begründung, warum ausgerechnet die Ökonomie am besten dafür geeignet ist, als Grundlage einer Ethik zu dienen. Die Selbstdurchdringung der Moral ist dabei ein Phänomen, das durch die Spieltheorie nachgewiesen werden kann.
Das Prinzip der Nutzenmaximierung, wie es im Modell des Homo Oeconomicus zum Ausdruck kommt, ist laut Wühle, trotz einiger konzeptioneller Mängel, oder besser: Fehlinterpretationen, noch immer geeignet, das ökonomische Handeln der Menschen zu erklären, wie es u.a. Gary Becker in seinen Büchern und Artikeln getan hat.
Der Trennung der Wirtschaft in eine Real- und Finanzwirtschaft kann Wühle nur wenig abgewinnen. Dieser (künstliche) Gegensatz wurde in der Vergangenheit schon öfters kreiert, um bestimmte Berufs- und ethische Gruppen zu diffamieren. Hier der raffgierige Bankier bzw. Banker, dort der im Schweiße seines Angesichts hart arbeitende mittelständische Unternehmer oder Handwerker. Dass Finanzmärkte nicht per se unmoralisch handeln, lässt sich für Wühle u.a. am Beispiel des Social Investing und/oder der Mikrokredite belegen. Selbst die Spekulation auf den Rohstoffmärkten sei unter dem Strich positiv zu bewerten, da sie erst die Märkte schafft bzw. am Leben hält, auf die die Produzenten für ihre Finanzierung und den Warenabsatz angewiesen sind.
Seiner Argumentationslinie folgend, hält Wühle die Unterscheidung Gute Banken – Schlechte Banken für irreführend. Ethikbanken bzw. Ethische Investmentfonds agieren häufig nicht weniger spekulativ oder herkömmlich als die “gewöhnlichen” Banken. Zudem sei der Begriff Ethische Bank bzw. Ethisches Investment nicht klar definiert, so dass die Grenzen hier oft fließend verlaufen, und in dem einen oder anderen Fall der Verdacht nahe liegt, dass hier Etikettenschwindel betrieben wird. Auch, was unter einem sinnvollen Investment zu verstehen ist, bleibt unklar. Reines Ethisches Banking bleibe auf einen Nischenmarkt beschränkt.
Die ersten ethischen Banken waren in gewisser Hinsicht die Sparkassen- und Genossenschaftsbanken, die es im 19. Jahrhundert den “normalen” Bürgern ermöglichten, als mehr oder weniger gleichberechtigte Partner am Wirtschaftsleben teilzunehmen.
Damit die Ökonomie als Instanz einer neuen Ethik fungieren kann, benötigt sie eine entsprechende Akzeptanz in der Bevölkerung. Die ökonomische Bildung befindet sich auf einem – gemessen an der Bedeutung dieses Fachs für die Lebenswirklichkeit der Menschen – geringen Niveau. Dem müsse durch Bildungsmaßnahmen in den Schulen durch Einrichtung eines Fachs Wirtschaft und/oder Ethik abgeholfen werden. Die Kritik an den Ökonomen infolge der letzten Finanzkrise zeige, dass hier noch einiges zu tun ist. Künftig müsse gelten:
Gut ist, was auf ökonomischem Wege entstanden ist. Denn das Produkt der Ökonomie vereint alle moralischen Werte in sich: Es ist gleichermaßen fair, gerecht und vernünftig. Es ist das Ergebnis der Moral der Märkte. Das Anerkennen dieses Grundprinzips durch die Gemeinschaft wird die Ethik der Ökonomie sein. Diese Ethik wird eine universale, begründbare und durchsetzungsfähige Ethik sein.
Kritische Würdigung:
Wühle gelingt es, seine These, wonach die Ökonomie als Grundlage einer neuen Ethik dienen soll, anhand verschiedener Theorien und Praxisbeispiele zu belegen. Die Argumentation ist konsistent und insgesamt schlüssig.
Dieser Vorzug entsteht auch dadurch, dass einige Theorien und Beispiele, die der These des Autors entgegenstehen, kaum bis gar nicht erwähnt werden, wenn wir jetzt von den “Klassikern” wie dem Marxismus sowie den Positionen von Shiller, Ulrich und Thielemann einmal absehen wollen. Die Kritik an der Ökonomie ist nicht neu und keinesfalls immer ein Fall von “Majestätsbeleidigung”. Allzu häufig zeigt sich, dass auch Ökonomen mit ihren Empfehlungen und Prognosen daneben liegen. Es war ausgerechnet Alexander Rüstow, auf den die Wortschöpfung des Neoliberalismus zurückgeht, und der Adam Smith und seine Nachfolger bezichtigte, “Wirtschaftstheologie” zu betreiben. Und auch Karl Popper räumte in seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde einige Defizite des Kapitalismus ein, indem er vom Paradoxon der Freiheit sprach. Poppers Schüler Hans Albert prägte den Begriff des Modellplatonismus, um das häufige Abgleiten der Ökonomen in eine Parallelwelt, in selbst gestalte Umwelten (Karl Weick) zu beschreiben. In ihrem Buch Strukturierte Verantwortungslosigkeit – Berichte aus der Bankenwelt nahmen die Autoren die speziellen Praktiken und Denkstile der Bankenwelt kritisch unter die Lupe.
Die Wirtschaftstheorie hat dazu tendiert, sich nicht auf den Wert der Freiheiten zu konzentrieren, sondern auf Nutzen, Einkommen und Wohlstand. Diese Verengung des Blickwinkels hat zur Folge, dass die volle Bedeutung des Marktmechanismus unterschätzt wurde, obwohl man der ökonomischen Zunft schwerlich vorwerfen kann, sie habe die Märkte nicht genug gepriesen. Die Frage ist jedoch nicht, wieviel Lob gespendet wurde, sondern aus welchen Gründen. .. Der Vorzug des Marktsystems liegt nicht allein in seiner Fähigkeit begründet, effizientere Maximierungsergebnisse zu erzielen.
Dafür, Unternehmen dennoch als moralische Akteure aufzufassen, spricht, dass sie Rechtssubjekte sind und in manchen Ländern sogar strafrechtlich belangt werden können. Außerdem machen wir ihnen im öffentlichen Diskurs moralische Vorwürfe, und vor allem können sie selbst auf diese Vorwürfe reagieren, sie verstehen also offensichtlich die Sprache der Moral.
Von vielen neoliberalen Ökonomen wird die zu Beginn der Moderne – im Zusammenhang des Entstehens der großen Nationalstaaten – sich durchsetzende moderne Marktwirtschaft freilich als die selbstverständlichste Sache der Welt hingestellt, die sich ganz “natürlich” so entwickelt habe: als ob sich die lokalen Märkte im Lauf der gesellschaftlichen Modernisierung von selber und weitgehend konfliktfrei auf größere Märkte ausgedehnt hätten.
Doch gerade dies stimmt historisch nicht: … Die moderne Marktwirtschaft entwickelte sich also keineswegs von selbst, sondern wurde auch gegen Widerstände politisch durchgesetzt (Hervorhebung im Originaltext) .. .
Ein Industrieführer, der moralische Grundsätze mutig und uneigennützig vertrat, war Berthold Beitz:
Erst spät wurde bekannt, dass er 1942 bis 1944 in Polen Hunderten von verfolgten Juden das Leben gerettet hat. Von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wurde er dafür als “Gerechter unter den Völkern” geehrt.
Auf die Problematik, die Ökonomie als Begründung für universalistische Konzeptionen, wie einer verbindlichen Ethik, heranzuziehen, weisen u.a. Bernd Bievert und Josef Wieland hin:
Damit eine formale Definition der Ökonomik überhaupt etwas spezifisches Ökonomisches erklären kann, setzt sie immer schon eine inhaltliche Definition der Ökonomie voraus. .. Wenn alles Ökonomie ist, dann ist Ökonomie nicht. Nur durch Grenzbestimmungen gewinnen Gegenstände ihr Spezifisches. Folgt man dieser Argumentation, dann muss man weiterhin über Regeln und Institutionen nachdenken sowie darüber, wie im Konfliktfall zwischen den Geltungsansprüchen verschiedener Rationalitätstypen verfahren und entschieden werden soll. Hier liegt auch das eigentliche praktische Problem moderner Gesellschaften. Siegt in solchen Fällen die normative Kraft der faktischen Macht der Ökonomie, oder gibt es einen systematischen Ort, von wo aus dieser Macht etwa aus ethischen Gründen wirksam widersprochen werden kann? (in: Sozialphilosophische Grundlagen ökonomischen Handelns).
Der Versuch, die Ökonomie zu einer allumfassenden Theorie der Ethik zu machen, scheitert nicht zuletzt an dem Gödelschen Theorem, wonach keine Theorie zugleich konsistent und vollständig sein kann. Nicht nur deshalb ist die Aussage:
Gut ist, was auf ökonomischem Wege entstanden ist. Denn das Produkt der Ökonomie vereint alle moralischen Werte in sich: Es ist gleichermaßen fair, gerecht und vernünftig.
problematisch, zumal zirkulär, oder anders: axiomatisch argumentiert wird. Aus den Zeilen spricht ein universalistischer Anspruch, der schnell in Dogmatismus und Metaphysik (“Wirtschaftstheologie”) umschlägt, und daher in dieser Form, u.a. mit John Rawls zurückzuweisen ist:
Als umfassende moralische Ideale sind Autonomie und Individualität für eine politische Gerechtigkeitskonzeption ungeeignet. Diese umfassenden Ideale werden daher trotz ihrer Bedeutung für das liberale Denken in den Theorien Kants und Mills überzogen, wenn sie als einzige angemessene Grundlage für einen Verfassungsstaat dargestellt werden. So verstanden wäre Liberalismus nicht anders als eine weitere sektiererische Lehre. (in: Die Idee des politischen Liberalismus)
Kurzum: Die Ökonomie kann nicht der Maßstab zur Bewertung ihrer eigenen Gültigkeit – noch dazu in ethischen oder moralischen Fragen – sein. Das käme einer Generalabsolution, einer Immunisierung (Karl Popper), einer Anmaßung von Wissen (F.A. von Hayek) und damit in letzter Konsequenz einer Selbstaufhebung gleich.
Abschließende Bemerkung:
Auch angesichts der aufgeführten Gegenargumente liest man das Buch Moral der Märkte mit Gewinn, zumal es dem Autor, wie bereits erwähnt, gelingt, seine Position mit einer schlüssigen Argumentation zu belegen. Dass er dabei andere Positionen nicht berücksichtigt, ist natürlich und letztlich auch unumgänglich, wenn man nicht die Absicht hat, eine Monographie über mehrere hundert Seiten zu verfassen. Wühle weist an einigen Stellen nach, dass der Markt, entgegen einer weit verbreiteten Ansicht, durchaus zum Wohle aller agieren kann – und das auch häufig macht. Insofern ist das Buch ein wichtiger Beitrag, der zu mehr Diversität in der Diskussion um die Vor- und Nachteile der Ökonomie beiträgt. Ob die Ökonomie allerdings das Zeug hat, die Grundlage einer neuen Ethik zu bilden, darf indes bezweifelt werden; wohl aber verfügt die Ökonomie über ethische Eigenschaften, die ihr bisher abgesprochen wurden. Das in dieser Form herausgestellt zu haben, ist kein geringes Verdienst des Autors.