Von Ralf Keuper
Als die sog. Realwirtschaft unter den Folgen der Finanzkrise noch schwer zu leiden hatte, war der allgemeine Tenor der, dass die Finanzindustrie zu ihren Wurzeln zurückkehren müsse. Damit war vor allem gemeint, dass von reinen Spekulationsgeschäften, wie im Eigenhandel der Banken (Stichwort Derivate), Abstand genommen werden sollte. In den Jahren vor Ausbruch der Finanzkrise hatte sich der Finanzsektor verselbständigt. Von seiner dienenden Funktion war er in die Rolle eines produzierenden Sektors geschlüpft. Die Erzeugnisse aus eigener Produktion flossen direkt in den Geldkreislauf, wo sie häufig mehrfach recycled wurden, ohne dass ein bzw. ein vergleichbarer realwirtschaftlicher Ausstoß dem entgegenstanden hätte.
Aaron Sahr beschrieb dieses relativ neue Phänomen eines sich selbst überlassenen Kreditsektors:
Neue und zusätzliche Finanzprodukte bedeuten bei Kreditgeld aber immer auch mehr Ressourcen. Die „fertigen“ Produkte, Guthaben oder Kreditpapiere fließen als Pfand direkt wieder in den Produktionsprozess des Geldes ein, weil sie eben nicht durch Konsum verbraucht werden. Das unterscheidet den monetären Produktionssektor von den anderen Wirtschaftsbereichen. So besehen, arbeitet der Banksektor im Normalfall gerade an der Abschaffung monetärer Knappheit und damit letztlich an der Abschaffung von Wirtschaft in ihrer klassischen Definition.
Der Eindruck verstärkt sich, dass die Kryptowährungen und die sog. ICOs (Initial Coin Offerings) dabei sind, die Rolle eines potenziellen Brandbeschleunigers für die nächste Finanzkrise zu übernehmen. Auffallend ist, dass die Kursentwicklung von Bitcoin und seine Verwendung für “echte” Transaktionen weit auseinander klaffen.
Einige Kommentatoren, wie Beat Welte, halten den Digitalen Crash für unausweichlich. Kritisch merkt er dazu an:
Irgendwann kommt wie im Märchen “Des Kaisers neue Kleider” der Moment der Erkenntnis – und die Auswirkungen auf das gesamte Finanzsystem könnten verheerend sein: Zwar beträgt der Wert der digitalen Währungen “nur” rund 120 Milliarden Dollar, aber die Chaostheorie lehrt, dass selbst der Flügelschlag eines Schmetterlings höchst Ungutes auslösen kann. Zumal die digitalen Währungen Eingang ins traditionelle Finanzsystem gefunden haben und von hochdotierten Gremien aus führenden Unternehmen in IT und Finanz gefördert und von der Stadtverwaltung Zug bis hin zu Japan und Australien als Zahlungsmittel akzeptiert werden.
Andere sehen die Lage deutlich entspannter; auch und gerade was die zuletzt umstrittenen Initial Coin Offerings betrifft, wie in Kryptowährungen, ICOs und Smart Contracts zu lesen ist.
ICOs werden auch Auswirkungen auf das Geschäftsmodel der Risikokapitalisten haben. Spiros Margaris, ein renommierter FinTech-Spezialist und Venture Capitalist, sieht bereits die Vorteile, die sich ergeben können: “Mit der steigenden Popularität der digitalen Währungen werden ICOs und ähnliche Konstrukte an Bedeutung gewinnen. Das klassische Modell wird weiter bestehen bleiben, doch werden sich VCs zusätzlich auch ICOs zu Nutzen machen, um Investitionen zu tätigen. Wir sind noch ganz am Anfang der Krypto-Revolution.”
Das sieht Mark Spitznagel in Why Cryptocurrencies Will Never Be Safe Havens kritischer:
Bitcoins should be regarded as assets, or really equities, not as currencies. They are each little business plans—each perceived to create future value. They are not stores-of-value, but rather volatile expectations on the future success of these business plans. But most ICOs probably don’t have viable business plans; they are truly castles in the sky, relying only on momentum effects among the growing herd of crypto-investors. (The Securities and Exchange Commission is correct in looking at them as equities.) Thus, we should expect their current value to be derived by the same razor-thin equity risk premiums and bubbly growth expectations that we see throughout markets today. And we should expect that value to suffer the same fate as occurs at the end of every speculative bubble.
Die aktuelle Entwicklung könnte man auch als weiteren Beleg für die Aufhebung der Ökonomie interpretieren. Der Begriff geht zurück auf den französischen Philosophen George Bataille. Für Bataille bildet die Verschwendung – und nicht die effiziente Nutzung der Ressourcen – die Basis der Ökonomie. Übertragen auf die heutige Zeit könnte man in Anlehnung an Bataille, so Gerhard Mersmann in seiner Rezension, die Folgerung ziehen:
Sind die massenweise Vernichtung von Kapital und Gütern nicht doch eine Machtillustration? Und spielt das allgemeine Wohl der Gesellschaft angesichts der Börsenkriege überhaupt noch eine Rolle im Bewusstsein derer, die diese Verschwendungsaktionen von Reichtum verantworten?
Das deckt sich wiederum mit der eingangs zitierten Beobachtung von Aaron Sahr:
So besehen, arbeitet der Banksektor im Normalfall gerade an der Abschaffung monetärer Knappheit und damit letztlich an der Abschaffung von Wirtschaft in ihrer klassischen Definition.
Einige Beobachter gehen davon aus, dass nach einem digitalen Crash der eigentliche Beginn der digitalen Revolution einsetzt. Dabei ziehen sie Parallelen zur Situation nach dem Platzen der Dotcom-Blase, in deren Folge die großen Internetkonzerne entstanden sind oder dann erst ihren Durchbruch feiern konnten.
Schaun mer mal.
Weitere Informationen:
China bans ICOs, calls it ‘illegal fundraising’
Russia’s Central Bank Issues Warning on Cryptocurrencies and ICOs
Finanzmarktregulierung: Auch für Coins und Tokens gibt es Regeln