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Das Genossenschaftswesen ist aus der Wirtschaft nicht mehr wegzudenken. Die leitenden Prinzipien Hilfe zur Selbsthilfe, Kooperation und Regionalität sind heute so aktuell wie zur Zeit von Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch. Die fortschreitende Digitalisierung ist für die Genossenschaftsbanken indes eine Herausforderung, die bis an die Wurzeln reicht. Wie können die Genossenschaftsbanken ihr Geschäfts- und Organisationsmodell angesichts des Aufkommens neuer, mächtiger Mitbewerber zukunftsfähig machen, welche neuen Genossenschaftsformen könnten demnächst entstehen, wie kompatibel verhält sich die Blockchain-Technologie zum Genossenschaftsmodell? Auf diese und weitere Fragen antwortet Prof. Dr. Theresia Theurl (Foto), Dekanin der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen an der Universität Münster, im Gespräch mit Bankstil.
- Frau Prof. Dr. Theurl, neben Ihrer Funktion als Dekanin der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Uni Münster leiten Sie das Institut für Genossenschaftswesen. Womit beschäftigen Sie sich in Ihren Forschungen, was macht das Thema Genossenschaftswesen so interessant?
Das Thema „Genossenschaftswesen“ ist aus mehreren Gründen sehr interessant. So handelt es sich bei Genossenschaften um die Pioniere der Kooperation, einem Geschäftsmodell, das heute in Wirtschaft und Gesellschaft sehr verbreitet ist, freilich unter anderen Bezeichnungen: Netzwerke, Cluster, Allianzen, Partnerschaften etc. Die organisatorische Innovation stammt aber von Menschen wir Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Hermann Schulze-Delitzsch sowie deren Vorgänger und Zeitgenossen. Dazu kommt, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so sind, dass auch Genossenschaften heute sehr gut in die Zeit passen. Dies zeigt sich daran, dass neue Genossenschaften in expandierenden Wirtschaftsbereichen und in wichtigen Gesellschaftsbereichen gegründet werden. Zusätzlich ist heute das theoretische und methodische Instrumentarium vorhanden, um Genossenschaften auf der Grundlage des Wissensstandes der Ökonomie adäquat analysieren zu können. Schließlich ist es erfreulich, dass es gerade junge Menschen sind, die großes Interesse an Genossenschaften zeigen. Aktuelle Forschungsprojekte am Institut für Genossenschaftswesen Münster sind z.B. wie Werte für die Mitglieder von Genossenschaften – ein MemberValue – geschaffen werden kann, was die Digitalisierung für Genossenschaften bedeutet, welche Herausforderungen für die genossenschaftliche FinanzGruppe bestehen, welche Perspektiven Energiegenossenschaften haben, welche gesellschaftliche Bedeutung Wohnungsgenossenschaften aufweisen und ob Genossenschaften die Sharing Economy gerechter machen können. Dies sind nur einige Beispiele.
- In diesem Jahr wird bei zahlreichen Gelegenheiten des 200. Geburtstages von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, dem Begründer des Genossenschaftswesens in Deutschland, gedacht – welche Anziehungskraft geht noch heute von seiner Person und seinem Wirken aus – was können wir daraus für die heutige Zeit lernen?
Friedrich Wilhelm Raiffeisen war bestens geeignet, um die Herausforderungen seiner Zeit sehr direkt anzupacken und die tristen Perspektiven der Menschen tatkräftig zu verbessern. Er erkannte, dass Not und Elend einzelner Menschen die Gesellschaft zerstören würden. Ursprünglich getrieben von Nächstenliebe und der Organisation von Hilfsprojekten erkannte er bald, dass es auf die Hilfe zur Selbsthilfe ankam. Er erkannte, dass die Menschen durchaus bereit und in der Lage waren, selbst Verantwortung zu übernehmen. Voraussetzung war die Erkenntnis, dass durch ein Zusammenwirken von Menschen Ergebnisse erreicht werden konnten, die sonst nicht möglich gewesen wären. Für die Art der Zusammenarbeit steht die Bezeichnung „Genossenschaft“. Mit ihr wurde eine organisatorische Innovation geschaffen, die sich weltweit verbreitete und die eine große Nachhaltigkeit entfaltete. Doch dies war nicht alles. Raiffeisen erkannte, dass es notwendig war, einer breiteren Bevölkerungsgruppe Zugang zu Finanzdienstleistungen zu verschaffen. Nur auf diese Weise konnten selbsttragende Wirtschaftskreisläufe entstehen, konnten kleine gewerbliche und landwirtschaftliche Betrieben bestehen und entstehen. Zusätzlich wusste er, dass die landwirtschaftliche Produktionsstruktur längerfristige Kredite erforderte, selbst wenn die Einlagen kurzfristiger Natur waren. Die von Raiffeisen erfundenen Darlehenskassenvereine, die Vorläufer der Genossenschaftsbanken, berücksichtigten dies, obwohl es damals nicht der herrschenden Lehre entsprach. Rückblickend waren Raiffeisens Erkenntnisse und Erfahrungen sowie sein tatkräftige Herangehensweise nicht nur außerordentlich weitsichtig, sondern sie riefen auch schnell Wirkungen hervor. Die heutige Anziehungskraft ist damit zu begründen. Sich selbst zu helfen und nicht zuerst nach dem Staat zu rufen, die Synergien der Zusammenarbeit zu erkennen, auf Nachhaltigkeit und Regionalität zu setzen ist auch heute noch eine erfolgversprechende Herangehensweise an die Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt.
- Die Genossenschaftsbanken (Volks-und Raiffeisenbanken) werden, wie die anderen Banken auch, von der fortschreitenden Digitalisierung unter Druck gesetzt; große digitale Plattformen wie Amazon, Google, Apple oder Alibaba drängen in das Bankgeschäft. Wie wollen, wie können die Genossenschaftsbanken auf diese neue Marktkonstellation reagieren?
Die aktuellen Rahmenbedingungen sind vor allem deswegen für Banken so herausfordernd, weil zur Digitalisierung noch die demografische Entwicklung, die Geldpolitik der EZB sowie eine Bankenregulierung kommen, die nicht auf die Risikoprofile der Banken Rücksicht nimmt. Im Ergebnis kommt es zu einem Druck auf die Erträge und steigende Kosten. Weil die Genossenschaftsbanken stärker in der Realwirtschaft verankert sind und weniger Aktivitäten auf den Finanzmärkten setzen, sind sie besonders davon betroffen. Es ist auffällig, dass die Banken nicht nur auf allen Ebenen ihrer Wertschöpfungskette angegriffen werden, sondern dass sich auch die großen Plattformen in die Kundenschnittstellen drängen. Auf diese Weise werden die Banken sowohl von FinTechs als auch von den genannten Plattformen in die Zange genommen. Die Reaktionen der Genossenschaftsbanken sollten in erster Linie auf einer Strategie der Gruppe beruhen und so geschieht es auch. Damit ist eine Veränderung der Arbeitsteilung hin zu gemeinsamen Lösungen und Investitionen verbunden. Die seit Langem bestehende Vernetzung und die Organisation als Gruppe erleichtern entsprechende Maßnahmen, auch für die einzelnen Banken, die vor allem ihre Kundenschnittstelle verteidigen müssen. Dabei sollten die Chancen der Digitalisierung nicht übersehen werden. Sie bestehen in einer Steigerung der Prozesseffizienz innerhalb der Gruppe und in den Banken. Schließlich wird Banking ein Geschäft von Menschen für Menschen bleiben. Dies ändert aber nichts daran, dass es zu Veränderungen für die Gruppe, für die einzelnen Banken, für die Kunden und Mitglieder sowie für die Mitarbeiter kommen wird.
- Das Internet, so ist häufig zu lesen, kennt kein Regionalprinzip. Stimmen Sie der Aussage zu?
Das Internet ist von seiner Grundstruktur global angelegt, es ist eine globale Infrastruktur. Dies heißt jedoch nicht, dass deswegen die Transaktionen global werden müssen. Ganz im Gegenteil. Das Internet erleichtert regionale Transaktionen. Solche können effizienter abgewickelt werden, es können Informations- und Transaktionskosten gespart werden. Das Internet ist auf Größe und Vernetzung ausgerichtet. Genossenschaften zeichnen sich dadurch aus, dass regional tätige Unternehmen und solche, die gemeinsame Leistungen für sie auf einer zentralen Ebene erbringen, zusammenarbeiten. Das Internet erleichtert diese Zusammenarbeit und die damit verbundene Arbeitsteilung. Es ermöglicht, dass Unternehmen klein und regional verankert bleiben.
- Könnten Ansätze wie Das digitale Dorf oder die Digitale Stadt für die Genossenschaftsbanken eine Chance sein?
Digitale Dörfer und Städte weisen unabhängig von der konkreten Organisationsform ein genossenschaftliches Konstruktionsprinzip auf. Vor allem im ländlichen Bereich stellen sie eine Reaktion auf den Verlust von Infrastruktur, Nahversorgung und vielen Dienstleistungen dar. Dieser führt zu weitreichenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen, zu einer Entwertung von Wirtschafts- und Lebensräumen. Gelingt es diesen Teufelskreis durch eine innovative Organisation von Leistungen zudurchbrechen, wie sie digitale Dörfer und digitale Städte darstellen, bieten sich neue Perspektiven für die Menschen und die Standorte. Die Digitalisierung mit ihrem Vernetzungspotenzial erleichtert solche Projekte außerordentlich, macht sie eigentlich erst möglich. Dies gilt auch für Stadtteile und Quartiere. Auch wenn dafür meist keine Genossenschaften gegründet werden, geht es um die Verwirklichung der genossenschaftlichen Idee. Genossenschaftsbanken können solche Projekte initiieren, organisieren, beraten oder finanzieren. Sie können in Kooperation mit anderen Akteuren Projektträger werden. Digitale Dörfer und digitale Städte bieten zusätzlich ein Geschäftsgebiet, das mit Bankdienstleistungen zu versorgen ist, sei es in Filialen oder digital.
- Seit einiger Zeit taucht an mehreren Stellen die Idee einer Datengenossenschaft auf. Damit sollen die Nutzer an den Erträgen aus ihren Daten, die heute fast vollständig in die Kassen von Google und facebook fließen, beteiligt werden. Wie schätzen Sie das ein?
Eine Datengenossenschaft ist sehr naheliegend. Sie kann in mehreren Ausprägungen entstehen. Genossenschaftliche Daten-Clouds ermöglichen es, den Zugriff, die Verarbeitung und die Verwendung von Daten selbst zu organisieren und die ggf. damit verbundenen Gewinne selbst zu behalten. Für die genossenschaftlichen Mitglieder entstehen Werte auf den üblichen drei Wegen, über die gemeinsam organisierten „Datenleistungen“ mit den selbst definierten Standards, über die Entscheidungs- und Kontrollrechte für alle strategischen Weichenstellungen, sowie über die ev. Ausschüttung von Gewinnen. Dazu kommen die Ergebnisse der Investitionen in die Weiterentwicklung der Daten-Clouds. Dass die Eigentümer der Daten gleichzeitig die Eigentümer der Daten-Cloud sind und zusätzlich die Nutzer ihrer Leistungen und dass sie auch die wichtigen Entscheidungen treffen, führt nicht nur zur Übernahme unternehmerischer Verantwortung, sondern das Zusammenfallen dieser Funktionen kann auch als ein Vertrauensanker verstanden werden, was gerade bei Daten zunehmend wertvoller wird. Das skizzierte genossenschaftliche Prinzip der Daten-Clouds kann für den Aufbau einer jeden Plattform umgesetzt werden. Zu denken ist etwa an die Sharing Economy. In dieser schöpfen die Eigentümer der Plattformen, meist externe Investoren, die Gewinne ab. Bei genossenschaftlich organisierten Plattformen sind dies hingegen die Nutzer, die Wesentliches zur Wertschöpfung beitragen. Viele moderne Service-Plattformen sind dafür geeignet, auch formell als Genossenschaften organisiert zu werden.
- Könnten neue Technologien, wie die Blockchain oder allgemein die Distributed Ledger Technologies mit ihrem betont dezentralen Ansatz, den Genossenschaften weiteren Schub verleihen – nicht nur im Banking?
Hier haben wir das Zusammenwirken dezentraler Aktivitäten und Leistungen. Durch die Konstruktionsmerkmale eines verteilten Netzwerkes, der Peer-to-Peer-Interaktion, der umfassenden Transparenz, der Irreversibilität der Eintragungen und der Programmierbarkeit, kann auf einen Intermediär oder auf eine zentrale Instanz verzichtet werden. Dennoch wird auch hier die genossenschaftliche Grundidee der Koordination dezentraler Aktivitäten umgesetzt, meist ohne dass Genossenschaften gegründet werden. Mit der Blockchain-Technologie eröffnen sich neue Potenziale für kooperative und dezentral organisierte Geschäftsmodelle für zahlreiche Geschäftsfelder, die bisher nicht genossenschaftlich organisiert sind. Durch die Möglichkeit auf zentrale Akteure zu verzichten, können manche vertikale und horizontale Anreizprobleme in Genossenschaften, vermieden werden. Die Blockchain-Technologie und darauf aufbauende Innovationen sind zusätzlich in der Lage Koordinations- und Organisationskosten der Zusammenarbeit erheblich zu senken. Es könnte also tatsächlich zu einem „genossenschaftlichen Schub“ in neue und außerordentlich zukunftsträchtige Geschäftsfelder kommen.
- Was meinen Sie, welche neuen Genossenschaftsformen könnten in den nächsten Jahren entstehen?
Ich gehe davon aus, dass tatsächlich vermehrt genossenschaftliche Daten-Clouds und genossenschaftliche Plattformen entstehen werden. Zusätzlich werden Genossenschaften verstärkt in Bereichen gegründet werden, aus denen sich der Staat zurückzieht und die dann neu zu organisieren sind, z. B. Infrastrukturen. Ein weites Feld sehe ich bei der Nahversorgung. Dies betrifft nicht nur Lebensmittel, sondern ebenso logistische, kulturelle, ärztliche, soziale und andere persönliche Dienstleistungen. Weiters könnten genossenschaftliche Lösungen gewählt werden, um Vertrauensgüter und wissensbasierte Leistungen zu organisieren. Da deren Qualität erst dann eingeschätzt werden kann, wenn sie tatsächlich benötigt und genutzt werden, gewinnt die Identität des Anbieters große Bedeutung. Der Wunsch Abhängigkeit und Ausbeutbarkeit zu vermeiden und Entscheidungsrechte in wichtigen Lebensbereichen neu zu definieren, hat bereits heute zur Gründung zahlreicher und vielfältig ausgestalteter Genossenschaften im Gesundheits- und Pflegebereich geführt. Auch zusätzliche Familiengenossenschaften dürften entstehen, ebenso weitere Genossenschaften zur Energieerzeugung und ‑versorgung. Ein zunehmender Wettbewerb sowie stark angestiegene Anforderungen durch die staatliche Regulierung treiben ebenso genossenschaftliche Gründungen. Beispiele dafür sind Handwerker- oder Beratergenossenschaften sowie Künstler- oder Ärztegenossenschaften. Genossenschaften nehmen hier die Organisationsform virtueller Unternehmen an, in denen projektbezogen zusammengearbeitet wird.
- Frau Prof. Dr. Theurl, vielen Dank für das Interview!