Markt­kom­men­tar von Flo­ri­an Iel­po, Head of Macro and Mul­ti-Asset Port­fo­lio Mana­ger bei Lom­bard Odier Invest­ment Mana­gers (LOIM)

  • In der Regel ver­geht ein Jahr zwi­schen der Anhe­bung der Leit­zin­sen durch eine Zen­tral­bank und dem Zeit­punkt, an dem die Wirt­schaft Anzei­chen einer Ver­lang­sa­mung aufweist.
  • Die­se ver­zö­ger­ten Aus­wir­kun­gen auf die Real­wirt­schaft kön­nen von leicht bis sehr nega­tiv aus­fal­len, was bedeu­tet, dass die Zen­tral­ban­ken prak­tisch im Blind­flug handeln.
  • Das größ­te Risi­ko für die Jah­re 2022–2023 ist nach wie vor eine über­mä­ßi­ge Straf­fung der Geld­po­li­tik. Die Märk­te haben die­se Mög­lich­keit im Juli viel­leicht noch ver­wor­fen, aber jetzt ist sie wie­der in den Vor­der­grund gerückt.

Die Juli-Ral­ly, die sich bis in die ers­ten August­wo­chen erstreck­te, basier­te auf einem drei­fa­chen Nar­ra­tiv: Die Infla­ti­on ist rück­läu­fig und eine Wen­de der Fede­ral Reser­ve (Fed) steht bevor; Zins­er­hö­hun­gen dürf­ten zu einer wei­chen Lan­dung füh­ren; die Infla­ti­on ist ein posi­ti­ver Fak­tor für die Unter­neh­mens­ge­win­ne. Jede die­ser drei Säu­len wird in den letz­ten vier Mona­ten des Jah­res 2022 oder, wenn nicht jetzt, dann mit ziem­li­cher Sicher­heit im Jahr 2023 auf eine har­te Pro­be gestellt wer­den. Eine der wich­tigs­ten die­ser Säu­len ist die Fähig­keit der Zen­tral­ban­ken, eine wei­che Lan­dung her­bei­zu­füh­ren. 

Eine Ver­zö­ge­rung zwi­schen Akti­on und Wirkung

Im Gegen­satz zu Chir­ur­gen muss bei­spiels­wei­se die Fed meh­re­re Quar­ta­le abwar­ten, um die Aus­wir­kun­gen ihrer poli­ti­schen Ände­run­gen auf Infla­ti­on und Wachs­tum zu beur­tei­len, Quar­ta­le, in denen sie wei­ter­hin geld­po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen tref­fen muss. Wir soll­ten daher die Schwie­rig­keit der Auf­ga­be der Zen­tral­ban­ker und das Risi­ko aner­ken­nen, das mit den Ent­schei­dun­gen der Fed und ins­be­son­de­re der Euro­päi­schen Zen­tral­bank (EZB) ver­bun­den ist.

Seit Jah­res­be­ginn hat die Fed die Zins­sät­ze bereits um etwas mehr als 200 Basis­punk­te ange­ho­ben, und der Markt erwar­tet wei­te­re 150 Basis­punk­te in den kom­men­den Quar­ta­len. Die Abbil­dung zeigt die Ent­wick­lung der Fed-Poli­tik, wobei die Zins­er­hö­hun­gen 2017–2018 als Maß­stab die­nen. Im Moment blei­ben wir auf der Sei­te der­je­ni­gen, die eine mode­ra­te Aus­wir­kung erwar­ten: 

  • Die Fed hält an ihrer restrik­ti­ven Poli­tik fest, aber der Weg in den restrik­ti­ven Bereich könn­te sich in den kom­men­den Mona­ten ver­lang­sa­men, wenn die Infla­ti­on end­lich anzieht.
  • Trotz der für die­ses Jahr erwar­te­ten Leit­zins­er­hö­hun­gen um 350 Basis­punk­te haben sich die lang­fris­ti­gen Real­sät­ze um 150 Basis­punk­te von ‑1 % auf +0,5 % ver­teu­ert – ein Kapi­tal­kos­ten­satz, der unse­res Erach­tens nicht hoch genug ist, um der Real­wirt­schaft die schlimms­ten Fol­gen zuzu­fü­gen; vor allem, weil…
  • … es kei­ne grö­ße­ren Ungleich­ge­wich­te gibt, die von ande­ren Akteu­ren aus­ge­hen – wie die Ver­schul­dung der pri­va­ten Haus­hal­te im Jahr 2008 oder die Tech­no­lo­gie­bla­se im Jahr 2001[1]Vgl. dazu: Theo­rie vom schritt­wei­sen Plat­zen der Super­bla­sen[2]Vgl. dazu: Euro­pa: Ein Kon­ti­nent im per­fek­ten Sturm.
  • Die Ver­brau­cher sit­zen immer noch auf einem gro­ßen Pols­ter an Erspar­nis­sen aus dem ver­blei­ben­den Covid-Konjunkturprogramm.
  • Schließ­lich dürf­te die Infla­ti­on nicht mehr für posi­ti­ve Über­ra­schun­gen sor­gen, son­dern all­mäh­lich zurück­ge­hen und noch eini­ge Quar­ta­le lang leicht über dem Infla­ti­ons­ziel der Bank liegen.

Abbil­dung: Das geld­po­li­ti­sche Sze­na­rio der Fed

Das Risi­ko die­ses Sze­na­ri­os ist fol­gen­des: Die Wahr­schein­lich­keit, dass die Fed und ande­re Zen­tral­ban­ken in ihrem Kampf gegen die Infla­ti­on dog­ma­tisch vor­ge­hen, ist nicht gleich Null, da die Infla­ti­on auf meh­re­re Wirt­schafts­sek­to­ren über­ge­grif­fen hat. Eine über­mä­ßi­ge Straf­fung wür­de sich nach­tei­lig auf das Wachs­tum aus­wir­ken, was zu einer beschleu­nig­ten Wir­kung füh­ren könn­te – ein Sze­na­rio der “har­ten Landung”.

Dies ist zum jet­zi­gen Zeit­punkt ein Risi­ko, aber man darf nicht ver­ges­sen, dass die Auf­ga­be eines Zen­tral­ban­kers kei­ne Prä­zi­si­ons­ar­beit ist, ganz im Gegen­teil. Wenn die Jah­re 2022 und 2023 ein Risi­ko in sich ber­gen, dann ist es das Risi­ko einer über­mä­ßi­gen Straf­fung. Wäh­rend der Markt die­ses Sze­na­rio im Juli noch ablehn­te, ist er in letz­ter Zeit weni­ger zuver­sicht­lich gewor­den, und die Rück­kehr zum Prag­ma­tis­mus deu­tet dar­auf hin, dass in die­ser Pha­se des Zyklus Vor­sicht gebo­ten ist.

Ein­fach aus­ge­drückt: Der durch die Zins­er­hö­hun­gen der Fed ver­ur­sach­te Scha­den für die Wirt­schafts­tä­tig­keit wird wahr­schein­lich erst Anfang nächs­ten Jah­res sicht­bar wer­den. Die Rezes­si­on dürf­te mild aus­fal­len, könn­te aber schwer­wie­gen­der sein, wenn die Fed ange­sichts der anhal­ten­den Infla­ti­on ener­gi­scher vorgeht.

Unse­re Pro­gno­se­indi­ka­to­ren deu­ten der­zeit dar­auf hin:

  • Das welt­wei­te Wachs­tum ist ein­deu­tig rück­läu­fig. In den USA und der Euro­zo­ne gibt es Anzei­chen für eine nach­las­sen­de Wachs­tums­dy­na­mik. Die US-Wirt­schaft hat am 18. August die Schwel­le zur Rezes­si­on überschritten.
  • Die Infla­ti­ons­über­ra­schun­gen wer­den in der Euro­zo­ne posi­tiv blei­ben, wäh­rend sie in ande­ren Län­dern zurück­ge­hen und in den USA nicht mehr vor­han­den sind. Die Geld­po­li­tik wird wei­ter­hin eher restrik­tiv sein: Die Zen­tral­ban­ker wer­den wahr­schein­lich restrik­ti­ver sein als erwartet.