Die deutsche Wirtschaft mit ihrem Schwerpunkt auf der Hardware tut sich noch schwer, die Herausforderungen der Digitalisierung anzunehmen. Das ingenieursmäßige Vorgehen und Denken steht dem Erfolg häufig im Weg. Wie kann Deutschland seine Industrie in die digitale Ökonomie überführen, können wir unsere Domänen verteidigen oder müssen wir uns mit dem Rest begnügen? Sind nach der Medienindustrie und den Banken auch der Maschinenbau und die Chemiebranche an der Reihe? Was müsste sich an unserem Wirtschafts- und Bankstil ändern? Auf diese und weitere Fragen gibt Dr. Holger Schmidt (Foto), ausgewiesener Fachmann für die verschiedenen Facetten der Plattformökonomie, Antwort. Schmidt, u.a. Erfinder des Plattformindex, ist vielen als Netzökonom bekannt. In zahlreichen Veröffentlichungen (Deutschland 4.0: Wie die Digitale Transformation gelingt) und Vorträgen bringt Schmidt die Plattformökonomie einer breiteren, interessierten Öffentlichkeit näher. Darüber hinaus ist der ehemalige FAZ-Wirtschaftsjournalist noch als General Manager bei Ecodynamics und Kolumnist (Handelsblatt) tätig.
- Herr Dr. Schmidt, Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Phänomen der Plattformökonomie. Was ist daran neu?
Plattformen gibt es in Form einfacher Marktplätze natürlich schon immer. Aber erst digitale Plattformen ermöglichen die Skalen- und Netzwerkeffekte, die Plattformen heute zum dominanten Geschäftsmodell der digitalen Ökonomie gemacht haben. 7 der 10 wertvollsten Unternehmen der Welt arbeiten heute mit diesem Modell.
- Was genau verbirgt sich hinter dem von Ihnen entwickelten Plattform-Index und welche Schlussfolgerungen bzw. Prognosen lassen sich daraus für die Wirtschaft in Deutschland ableiten?
Der Index umfasst die – meiner Meinung nach – 15 besten Plattform-Aktien. Der Index hat sich in knapp 2 Jahren verdoppelt und zeigt, dass Plattformen an den Börsen höher als klassische Unternehmen bewertet werden. Im Index ist inzwischen kein deutsches Unternehmen mehr vertreten. Dafür gibt es Gründe: In Deutschland kenne ich keine hochentwickelten Plattformen der 3. Generation, die heute die Weltmärkte bestimmen. Zudem werden Plattform-Modelle an den Aktienmärkten in ganz Europa nicht so hoch bewertet wie in den USA oder Asien. Das macht den Unternehmen hier das Leben nicht leichter.
- Die Stärke der deutschen Industrie liegt eher in der Hardware als in der Software – mit dem Management digitaler Plattformen, die neben der Hardware noch die Software, Finanzierung und Logistik umfassen – haben wir so gut wie keine Erfahrungen. Woran könnte das liegen?
Punkt 1: Digitalisierung wird in Deutschland von Ingenieuren bestimmt. Industrie 4.0, der deutsche Weg, ist ein technikzentrierter Ansatz. Aber wenn wir uns die großen digitalen Game Changer bisher anschauen, dann waren es neue Geschäftsmodelle wie Streaming in der Musikwelt oder App-Stores in der Handywelt. Punkt 2: Digitale Modelle benötigen oft mehr Anlaufzeit, bis sie sich am Markt durchsetzen. Oft ziehen deutsche CFOs zu früh den Stecker. Mit einem deutschen CFO würde es heute weder Amazon noch Netflix geben. Punkt 3: Erfolg macht träge. Einen analogen Weltmarktführer in einen digitalen Weltmarktführer zu transformieren ist vor allem eine Frage des Mindsets.
- Nach der Medienindustrie wird nun die Bankenbranche systematisch von Alibaba, Amazon, Google, Samsung und Tencent in Beschlag genommen. Sie besetzen die Kundenschnittstelle. Können Banken sich dem Sog der Plattformen noch entziehen?
Nein. Spätestens mit PSD2 ist das Thema auch in den Banken angekommen. Die haben das auch erkannt. Allerdings ist die Zahl der Plattform-Modelle, die in den deutschen Banken entwickelt wurde, bisher noch überschaubar. Freude macht dagegen die Fintech-Szene in Deutschland mit Figo, Solaris oder N26.
- Wolfgang Wahlster, der Chef des Deutschen Forschungsinstituts für Künstliche Intelligenz, ist der Ansicht, dass Deutschlands Stärke in der Veredelung unserer Produkte durch KI-Anwendungen und in Smart Services liege. Stimmen Sie dem zu?
Sagen wir mal so: Es wäre schön, wenn sich diese Veredelung zu einer deutschen Stärke entwickelt. Noch wird KI – wenn überhaupt – meist zur Steigerung der Effizienz eingesetzt, weniger zur Entwicklung datenbasierter Produkte oder Geschäftsmodelle. Dafür fehlen oft noch die nötigen Daten und die Fachleute. Im digitalen Job-Monitor, den ich jedes Quartal für das Handelsblatt berechne, weisen die offenen Stellen für KI-Spezialisten stets die höchsten Zuwächse auf. Zwar ist Deutschland in der KI-Forschung erstklassig, aber dieser Transfer steht noch aus. Ich hoffe sehr, dass dieser Schritt gelingt.
- Wenn der Eindruck nicht täuscht, dann bewegen sich das Internet und das Industrial Internet aufeinander zu. Dabei könnte die Consumerization die Überhand gewinnen, d.h. die US-amerikanischen und asiatischen Technologiekonzerne mit ihrer Stärke im B2C-Segment könnten demnächst neben der Automobil- auch die Maschinenindustrie erobern. Ein überzogenes Szenario?
Die Attacke auf die Autoindustrie läuft ja längst. Den besten Job macht aktuell die Mobilitätsplattform Didi Chuxing aus China, finanziert von Apple, Alibaba und Softbank mit vielen Milliarden Dollar. Google hat gerade 62000 Autos bestellt, um in Kürze die erste autonom fahrende Flotte auf die Straßen zu bringen. Den Dreikampf aus autonomen Fahren, Mobilitätsplattformen und Elektromobilität wird aber sicher kein Unternehmen allein gewinnen und eine Entscheidung wird auch nicht über Nacht fallen. Die Strategie einiger Autohersteller, sich weiterhin auf die Hardware zu konzentrieren und das Plattform-Thema zu vernachlässigen, kann ich angesichts der Erfahrungen aus anderen Märkten aber nicht nachvollziehen. Im Maschinenbau sehe ich das größte Engagement im Moment in China, aber auch die deutsche Industrie digitalisiert sich und kann erstmal weiterhin auf ihre hohen Qualitätsstandards vertrauen. Plattformen und KI werden aber auch hier die Gamechanger sein. In beiden Themen sollten wir schneller werden.
- In den letzten Jahren haben die deutsche und europäische Wirtschaft in vielen Bereichen ihre digitale Souveränität eingebüßt – bleibt für uns demnächst nur noch der Bereich Cyber Security – reicht das aus?
Ich hoffe doch sehr, dass uns in der digitalen Ökonomie mehr bleibt als Cyber Security. Das reicht sicher nicht. Aber die Digitalisierung der deutschen Kernbranchen wie Automobil, Maschinenbau oder Chemie steht noch ganz am Anfang. Hier ist noch nichts verloren. Aber wir sollten aus den Fehlern, die Händler, Verleger oder Touristiker in der ersten Phase der Digitalisierung gemacht haben, die richtigen Schlüsse ziehen.
- Für den wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt bzw. Erfolg sind Standards (de facto oder de jure) von großer Bedeutung. Die digitalen Plattformen sind so etwas wie der de facto – Standard in der digitalen Ökonomie. Kann dem mit dem Konzept der Industrie 4.0 effektiv begegnet werden – brauchen wir eigene, europäische Standards, wie bei den Sicheren Digitalen Identitäten?
Schwer zu sagen. Mit Industrie 4.0 sind wir auf dem Weg, den Standard für die Industriewelt zu setzen. Allerdings verläuft die technologische Entwicklung oft schneller als unsere Standardisierer arbeiten können. Insofern bin ich mir noch nicht sicher, ob wir das schaffen.
- Was glauben Sie, bekommen Deutschland und Europa in Sachen Digitalisierung noch die Kurve?
Seit ein oder zwei Jahren ist wirklich allen Entscheidern in Deutschland klar, dass Digitalisierung mehr als ein Projekt ist, das in zwei Jahren erledigt ist. Alle haben sich auf den Weg gemacht. Und wenn der deutsche Mittelstand die Muskeln anspannt, passiert auch etwas. Aber wenn man sieht, mit welch unglaublichem Tempo sich China digitalisiert, sollten wir uns beeilen. Nicht zufällig kaufen Chinesen gerade unsere Roboterhersteller, werben unsere KI-Forscher ab und bauen die neue Seidenstraße. Unsere Maschinenbauer sollten ihre digitalen Pilgerreisen nicht ins Silicon Valley, sondern nach China unternehmen.
- Herr Dr. Schmidt, vielen Dank für das Gespräch!