Von Ralf Keuper
Bis vor kurzem noch hätte ich den Vergleich der Stilarten im Banking mit denen der Literatur als reine Spielerei abgetan. Das änderte sich während der Lektüre von Karten, Kurven, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte von Franco Moretti.
In der Literaturgeschichte war, und ist es bisweilen auch noch heute, üblich, die verschiedenen Phasen auf bestimmte herausragende Werke und Autoren zu reduzieren bzw. damit gleichzusetzen. Demgegenüber vertritt Moretti die Ansicht, dass die großen Werke der Literatur das Produkt der jeweiligen Epoche sind. Die Literaturgeschichte lässt sich in Zyklen einteilen, die bestimmten, häufig wiederkehrenden, Mustern folgen. Ablesen lässt sich diese Entwicklung u.a. auch an den verschiedenen Genres:
Von individuellen Fällen zu Serien; von Serien zu Zyklen; von diesen zu Genres als ihren morphologischen Verkörperungen. (ebd.)
Genres ändern sich, nachdem sie sich lange Zeit als außerordentlich langlebig und zäh erwiesen hatten, häufig schlagartig. Moretti führt das in Anlehnung an Thomas Kuhn u.a. auf die veränderten Lesegewohnheiten einer neuen Generation zurück:
Bücher bleiben präsent, solange sie gelesen werden, sie verschwinden, sobald das nicht mehr der Fall ist; und wenn ein ganzes System plötzlich verschwindet, ist die wohl plausibelste Erklärung, dass seine Leser plötzlich verschwunden sind. (ebd.)
Parallelen zur Stilentwicklung im Banking bestehen mit Blick auf das veränderte Kauf- und Informationsverhalten der heranwachsenden, technikaffinen Generation Y. Eine neue Generation beschäftigt sich erst gar nicht mehr mit den alten Gewohnheiten und Angeboten, sondern setzt an den neuen Formen der Interaktion, wie sie durch das Internet unterstützt und hevorgebracht werden, an. Kurzum: Statt sich an den bestehenden Genres abzuarbeiten und ihre Defizite zu diskutieren und anzuprangern, umgehen die neuen Leser, Kunden das alte Format schlicht. Wozu sich mit Kritik aufhalten, wenn es doch genügend andere Möglichkeiten gibt? Die beste Form der Kritik ist noch immer, es auf andere, auf seine Weise zu tun. Das Hindernis, das Genre, das Geschäftsmodell, wird einfach umgangen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass völlig neue Formen, weder in der Literatur noch im Banking entstehen; die Spannung zwischen den Polen sorgt, bei aller scheinbaren Konstanz, für neue Formen und Stilarten.
Kein Sieg ist endgültig, weder männliche Autoren noch weibliche Autorinnen “besetzen” das Feld des britischen Romans jemals vollständig, die Gattung oszilliert zwischen den beiden Gruppen. Das bedeutet aber keineswegs, dass nichts geschieht, denn tatsächlich vollzieht sich permanent etwas: die Oszillation. Dadurch ist der Roman in der Lage, parallel je zwei Reservoirs von Talenten und Formen anzapfen zu können, somit seine Produktivität zu erhöhen und seine zahlreichen Mitbewerber hinter sich zu lassen. (ebd.)
In der Literaturgeschichte hat es immer wieder Gruppen gegeben, wie in Deutschland die legendäre Gruppe 47, die neue Formen ausprobiert und propagiert haben. Im Banking erfüllen diese Funktion momentan die zahlreichen FinTech-Startups, die versuchen, neue Formen, einen neuen Bankstil durchzusetzen.
Weitere Informationen:
Was ist ein “Bankstil”? (Grundlegung eines neuen Begriffs) #1
Stilgeschichte als Spiegelbild der Kulturgeschichte der Menschheit (Friedrich Jodl)