Die digi­ta­le Iden­ti­tät steht in Deutsch­land an einem kri­ti­schen Wen­de­punkt. Das För­der­pro­jekt “Schau­fens­ter Siche­re Digi­ta­le Iden­ti­tä­ten” hat dabei wich­ti­ge Pio­nier­ar­beit geleis­tet, indem es die kom­ple­xen Her­aus­for­de­run­gen an der Schnitt­stel­le von Tech­no­lo­gie, Anwen­dung, Regu­lie­rung und Geschäfts­mo­del­len adres­sier­te, so der Infor­ma­tik­pro­fes­sor Jür­gen Anke von der HTW Dres­den und die Lei­te­rin der Begleit­for­schung Lil­ly Schmidt von der ESMT Ber­lin im Gespräch mit unse­rem Part­ner-Blog Iden­ti­ty Eco­no­my. Dies war drin­gend not­wen­dig, denn anders als in Skan­di­na­vi­en, wo digi­ta­le Iden­ti­fi­zie­rung seit über zwan­zig Jah­ren Rea­li­tät ist, hinkt Deutsch­land deut­lich hin­ter­her – eine gefähr­li­che Situa­ti­on ange­sichts der rasan­ten glo­ba­len Entwicklungen.

Lil­ly Schmidt, Lei­te­rin der Begleit­for­schung von der ESMT Berlin

Par­al­lel dazu ent­wi­ckelt sich auf euro­päi­scher Ebe­ne mit eIDAS 2.0 ein weg­wei­sen­der recht­li­cher Rah­men für digi­ta­le Iden­ti­tä­ten und Ver­trau­ens­diens­te. Die damit ver­bun­de­ne EUDI-Wal­let soll als digi­ta­le Brief­ta­sche EU-Bür­gern ermög­li­chen, Iden­ti­täts­nach­wei­se und wich­ti­ge Doku­men­te digi­tal zu spei­chern und euro­pa­weit zu nut­zen. Beson­ders zukunfts­wei­send ist dabei der Ein­satz von Self Sove­reign Iden­ti­ties (SSI), die den Nut­zern die voll­stän­di­ge Kon­trol­le über ihre digi­ta­len Iden­ti­tä­ten ermög­li­chen. Durch veri­fi­zier­ba­re Nach­wei­se (Veri­fia­ble Cre­den­ti­als) und selek­ti­ve Daten­frei­ga­be wird der Daten­schutz sub­stan­ti­ell gestärkt.

Die im Pro­jekt gewon­ne­nen Erkennt­nis­se sind alar­mie­rend: Wäh­rend sich Tech-Gigan­ten wie Apple und Goog­le bereits posi­tio­nie­ren, um ihre Wal­let-Lösun­gen zum Stan­dard zu machen, fehlt in Deutsch­land noch immer eine ein­heit­li­che Stra­te­gie. Beson­ders kri­tisch ist dabei die unkla­re Har­mo­ni­sie­rung zwi­schen Video-Ident, Smar­teID, Bund­ID und der kom­men­den EUDI-Wallet.

Prof. Dr. Jür­gen Anke, HTW Dresden

Ein Kern­pro­blem ist das Feh­len einer kla­ren Zustän­dig­keit in der Bun­des­re­gie­rung für die digi­ta­le Iden­ti­tät und die ihr zugrun­de lie­gen­de Infra­struk­tur. Die­se Frag­men­tie­rung der Ver­ant­wort­lich­kei­ten ver­hin­dert eine kohä­ren­te natio­na­le Stra­te­gie und ver­zö­gert drin­gend not­wen­di­ge Ent­schei­dun­gen. Das Zeit­fens­ter zum Han­deln schließt sich rapi­de – es blei­ben nur noch weni­ge Jah­re, um zu ver­hin­dern, dass Euro­pa nach Brow­sern, Such­ma­schi­nen, Mes­sen­gern und Smart­phones auch bei digi­ta­len Iden­ti­tä­ten in tech­no­lo­gi­sche Abhän­gig­keit gerät.

Beson­ders kri­tisch ist die Erkennt­nis des För­der­pro­jekts, dass die bis­he­ri­ge Pro­jekt­dau­er, jeden­falls für ein Infra­struk­tur­pro­jekt, nicht aus­reicht. Die gewon­ne­ne Exper­ti­se und das auf­ge­bau­te Know-how dro­hen unwie­der­bring­lich ver­lo­ren zu gehen, da bis­lang kei­ne Fol­ge­pro­jek­te in einer sol­chen Grö­ßen­ord­nung geplant sind. Dies ist beson­ders bedenk­lich, da eine funk­tio­nie­ren­de digi­ta­le Iden­ti­täts­in­fra­struk­tur für die digi­ta­le Sou­ve­rä­ni­tät Euro­pas unver­zicht­bar ist.

Die im Pro­jekt ent­stan­de­ne Com­mu­ni­ty, die sich unter ande­rem in der Ver­an­stal­tung Authen­ti­con zusam­men­fin­det, betont: Eine euro­päi­sche Alter­na­ti­ve zu den US-Lösun­gen muss drin­gend ent­wi­ckelt wer­den. Die­se muss nicht nur sicher, son­dern vor allem benut­zer­freund­lich sein. Um das Hen­ne-Ei-Pro­blem zu lösen, braucht es eine schnel­le Markt­durch­drin­gung von 20–30 Pro­zent – ein ambi­tio­nier­tes, aber not­wen­di­ges Ziel, um die digi­ta­le Iden­ti­tät zum selbst­ver­ständ­li­chen Bestand­teil des All­tags zu machen.

Die Zeit drängt, und die Erkennt­nis­se des Schau­fens­ter­pro­jekts mah­nen zum sofor­ti­gen Han­deln. Ohne kon­ti­nu­ier­li­che För­de­rung und stra­te­gi­sche Wei­ter­ent­wick­lung droht Deutsch­land den Anschluss bei die­ser Schlüs­sel­tech­no­lo­gie end­gül­tig zu ver­lie­ren – mit weit­rei­chen­den Fol­gen für die digi­ta­le Sou­ve­rä­ni­tät unse­rer Volks­wirt­schaft. Immer­hin besteht mit eIDAS 2.0 die Chan­ce, einen welt­weit aner­kann­ten Stan­dard zu etablieren.

Das Gespräch führ­te Ralf Keuper