Getting your Trinity Audio player ready...

Von Ralf Keuper

Über den Auf­stieg Chi­nas zur der­zeit zweit­größ­ten Volks­wirt­schaft der Welt in nur weni­gen Jahr­zehn­ten sind bereits zahl­rei­che Bücher erschie­nen. Auch die geo­po­li­ti­schen Ver­än­de­run­gen, die damit ein­her­ge­hen, wer­den aus­gie­big dis­ku­tiert. Aktu­ell sind es Nach­rich­ten über tech­no­lo­gi­sche Neue­run­gen, ja Revo­lu­tio­nen, die uns aus Chi­na errei­chen – genannt sei nur Deep­Seek. Und doch blei­ben eini­ge wei­ße Fle­cken in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung bestehen. Dar­über, wie die chi­ne­si­sche Regie­rung und damit die fast all­mäch­ti­ge Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei unter ihrem Gene­ral­se­kre­tär Xi Jin­ping das Land regiert, ist hier­zu­lan­de wenig bekannt. Zu kom­pli­ziert, schon allein der Spra­che wegen, erscheint Chi­na den meis­ten Kom­men­ta­to­rin­nen und Kom­men­ta­to­ren. Die Poli­tik erkennt in Chi­na in ers­ter Linie einen Sys­tem­ri­va­len, der bestrebt ist, die west­li­che Ord­nung abzu­lö­sen und dafür bereit ist, auch mili­tä­ri­sche Mit­tel ein­zu­set­zen. Dies vor allem mit Blick auf Tai­wan. Wel­che Stra­te­gien die chi­ne­si­sche Regie­rung und die Par­tei ver­fol­gen, wel­che sprach­li­che Nuan­cen es dabei zu beach­ten gilt und war­um der Wes­ten gut bera­ten ist, sich inten­siv mit die­sen Fra­gen zu beschäf­ti­gen, beschreibt Mari­na Rud­yak in ihrem Buch Dia­log mit dem Dra­chen. Wie uns stra­te­gi­sche Empa­thie gegen­über stär­ken kann.

Rud­yak hat selbst eini­ge Jah­re in Chi­na gelebt und gear­bei­tet und beherrscht die chi­ne­si­sche Spra­che. Der­zeit arbei­tet sie als wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Insti­tut für Sino­lo­gie der Uni­ver­si­tät Hei­del­berg. Ihre For­schungs­schwer­punk­te sind Chi­nas inter­na­tio­na­le Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit, Chi­nas Bezie­hun­gen zu Russ­land sowie das inter­na­tio­na­le Dis­kur­sivs­tem der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Chinas.

Stra­te­gi­sches Den­ken Made in Chi­na – ein lan­ger Atem zahlt sich aus 

Stra­te­gi­sches Den­ken hat in Chi­na eine lan­ge Tra­di­ti­on. Genannt sei­en die 36 Stra­te­ge­me des Gene­rals Tan Dao­ji, die die­ser im 5. Jahr­hun­dert nach Chris­tus ver­fasst hat und das Buch Wahr­haft siegt wer nicht kämpft von Sun­zi, das um das Jahr 500 n. Chr. ent­stan­den sein soll. Dabei han­delt es sich um sog. indi­rek­te Stra­te­gien, bei denen der Geg­ner durch die eige­ne Über­macht so ein­ge­schüch­tert wer­den soll, dass ihm die Lust zum Kampf ver­geht und er frei­wil­lig die Waf­fen streckt. Eine direk­te Kon­fron­ta­ti­on soll nach Mög­lich­keit ver­mie­den wer­den. Die Erobe­rung frem­der Län­der, die dann durch mili­tä­ri­sche Prä­senz unter Kon­trol­le gehal­ten wer­den müs­sen, liegt nicht in der Absicht Chi­nas. Es wäre viel zu auf­wän­dig und ist auch nicht nötig. Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­se las­sen sich auch auf ande­rem, sub­ti­le­ren Wege errei­chen. Bei­spiel­haft dafür war die Expe­di­ti­on der legen­dä­ren Dra­chen­flot­te des Admi­rals Zen He.

Ähn­lich ver­fährt auch die chi­ne­si­sche Regie­rung. Bis heu­te unver­ges­sen und tief im Bewusst­sein der Chi­ne­sin­nen und Chi­ne­sen ver­an­kert sind die Demü­ti­gun­gen, die Chi­na im 19. und 20. Jahr­hun­dert durch west­li­che Län­der und Japan erlei­den muss­te. Dies betrifft vor allem den Opi­um-Krieg und den Boxer-Auf­stand. Das darf nie wie­der gesche­hen. Als beson­ders wir­kungs­mäch­tig bezeich­net Rud­yak die Geschich­te von Gou­ji­an, die aus dem 1. Jahr­tau­send vor Chris­tus stammt und bis heu­te als Meta­pher für Durch­hal­te­ver­mö­gen und stra­te­gi­sches Lang­frist-Den­ken gro­ßen Ein­fluss auf den Natio­nal­cha­rak­ter Chi­nas hat.

Stra­te­gi­sches Den­ken, ins­be­son­de­re das chi­ne­si­schen Ursprungs, spielt sich in lan­gen Zeit­ho­ri­zon­ten ab – kühl und über­legt und mög­lichst nicht aus dem Affekt. Lan­ger Atem zahlt sich aus. So blieb den chi­ne­si­schen Herr­schern in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts nicht ver­bor­gen, dass die Stär­ke der USA als Mili­tär­macht auf ihrer über­le­ge­nen Tech­no­lo­gie beruh­te. Ohne ent­spre­chen­de tech­no­lo­gi­sche und wirt­schaft­li­cher Basis, das erkann­ten die Macht­ha­ber, ins­be­son­de­re Deng Xiao­ping, blei­ben alle Ver­su­che, die USA  als Welt­macht abzu­lö­sen bzw. Chi­na als gleich­wer­ti­gen Akteur zu posi­tio­nie­ren, ver­geb­lich. Die Her­aus­for­de­rung bestand nun dar­in, Chi­na zu moder­ni­sie­ren, ohne das Land im west­li­chen Sin­ne zu demo­kra­ti­sie­ren. Zwar hebt die chi­ne­si­sche Regie­rung selbst die Demo­kra­tie bei vie­len Gele­gen­hei­ten her­vor – nur ist in Chi­na damit etwas ande­res gemeint, als im Wes­ten – indi­vi­du­el­le Frei­heits­rech­te jeden­falls nicht. Demo­kra­tie wird in Chi­na mit Sta­bi­li­tät gleich­ge­setzt. Die­se ist am bes­ten dazu geeig­net, das Wohl aller zu sichern und zu steigern.

Spra­che als das Herr­schafts­in­stru­ment schlechthin 

Das wohl wirk­mäch­tigs­te Herr­schafts­in­stru­ment, sowohl nach innen als auch nach außen, ist die for­ma­le poli­ti­sche Spra­che, die im chi­ne­si­schen als tifa bezeich­net wird. Für Außen­ste­hen­de glei­chen sie eher Wortspielen.

Tifa sind .. nie zufäl­lig oder ohne Bedeu­tung; sie reflek­tie­ren Ergeb­nis­se inner­par­tei­li­cher Macht­kämp­fe, und selbst die sub­tils­ten Ände­run­gen im Voka­bu­lar kön­nen Ver­än­de­run­gen in der herr­schen Poli­tik kom­mu­ni­zie­ren. … Die Rele­vanz der tifa ist jedoch mit­nich­ten auf Poli­tik allein beschränkt. Für prak­tisch alle dis­ku­tier­ten The­men gibt es Regeln für For­mu­lie­run­gen. Auch wer sich aus­schließ­lich für chi­ne­si­sche Wirt­schaft inter­es­siert, wäre gut bera­ten, sich mit der Poli­tik zu befas­sen, denn sie durch­ringt im gegen­wär­ti­gen Chi­na nahe­zu alles.

Des­we­gen ist es laut Rud­yak so wich­tig, die For­mu­lie­run­gen zu deko­die­ren. Zusam­men mit Kol­le­gen und Kol­le­gin­nen hat Rud­yak hier­zu das online-Nach­schla­ge­werk Deco­ding Chi­na Dic­tion­a­ry aus der Tau­fe gehoben.

Tai­wan

Wohl kaum ein The­ma löst bei den chi­ne­si­schen Macht­ha­bern so viel Emo­tio­nen aus, wie die Tai­wan-Fra­ge. Für die chi­ne­si­sche Regie­rung ist Tai­wan das letzt Stück Land, das noch nicht ins Mut­ter­land zurück­ge­kehrt ist. Dabei, so Rud­yak, gehör­te Tai­wan erst seit dem 17. Jahr­hun­dert zu Chi­na. 1895 wur­de Tai­wan nach Chi­nas Nie­der­la­ge im Sino-japa­ni­schen Krieg ver­trag­lich an Japan abge­ge­ben. Als Japan 1945 kapi­tu­lier­te über­nah­men die chi­ne­si­schen Natio­na­lis­ten unter Chiang Kai-shek die Insel. Zu dem Zeit­punkt hieß Tai­wan noch Formosa.

Tai­wan war nie Teil der Volks­re­pu­blik Chi­na, und vie­le auf der Insel sehen nicht nur Japan, son­dern auch die Natio­na­lis­ten, die 1949 vom chi­ne­si­schen Fest­land kamen und Tai­wan bis 1988 dik­ta­to­risch regier­ten, als Fremdherrscher.

Eine alter­na­ti­ve glo­ba­le Welt­ord­nung unter Chi­nas Führung 

Inzwi­schen ist es kein Geheim­nis mehr, dass Chi­na alles dar­an setzt, eine Welt­ord­nung zu eta­blie­ren, die sich als Alter­na­ti­ve zu der ame­ri­ka­nisch gepräg­ten Welt­ord­nung ver­steht. Hier­für bemüht die chi­ne­si­sche Regie­rung das Kon­zept der »Schick­sals­ge­mein­schaft«. Damit ist ein Kon­zept für eine Welt des dau­er­haf­ten Frie­dens, Sicher­heit für alle und gemein­sa­men Wohl­stand gemeint. Es geht von der Annah­me aus, dass alle Län­der eine gemein­sa­me Zukunft tei­len und eine Welt anstre­ben, die durch Offen­heit, Inklu­si­vi­tät, Gleich­heit, Gerech­tig­keit, har­mo­ni­sche Koexis­tenz, Diver­si­tät und gegen­sei­ti­ges Ler­nen geprägt ist. Klingt zu schön, um wahr zu sein. Ist es auch. Denn: “Die Schick­sals­ge­mein­schaft fasst die Welt­an­schau­ung, die Lebens­phi­lo­so­phie und das Wer­te­sys­tem der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Chi­nas zusam­men und bie­tet zugleich eine Visi­on für den Weg der glo­ba­len Zivi­li­sa­ti­on”, wie im ers­ten Bericht zum Fort­schritt der Schick­sals­ge­mein­schaft, her­aus­ge­ge­ben vom Think Tank der par­tei­staat­li­chen Nach­rich­ten­agen­tur Xin­hua, zu lesen ist.

Chi­nas glo­ba­le Entwicklungsinitiativen 

Chi­nas Stra­te­gie im Bereich der Ent­wick­lungs­hil­fe ist eben­falls bei­spiel­haft für das stra­te­gi­sche Den­ken der chi­ne­si­schen Füh­rung. Mit ihren Pro­jek­ten ver­folgt Chi­na nicht das Ziel, das poli­ti­sche Sys­tem der jewei­li­gen Län­der, meis­tens in Afri­ka, zu beein­flus­sen und den eige­nen Vor­stel­lun­gen anzu­pas­sen. In ers­ter Linie geht es dar­um, die eige­ne Ein­fluss­sphä­re in Afri­ka und wei­ten Tei­len Latein­ame­ri­kas aus­zu­deh­nen – und hier­bei sind wirt­schaft­li­che Moti­ve maß­ge­bend. Wenn es gelingt, die tech­ni­sche und wirt­schaft­li­che Infra­struk­tur der Ent­wick­lungs­län­der unter Kon­trol­le zu bekom­men, sind die chi­ne­si­schen Ambi­tio­nen erst ein­mal erfüllt. Zwar geben sich die meis­ten Ent­wick­lungs­län­der, was die chi­ne­si­schen Absich­ten betrifft, kei­nen Illu­sio­nen hin – nur sind sie zumin­dest bereit, akti­ve Hil­fe­stel­lung zu leis­ten und dar­an kei­ne poli­ti­schen Bedin­gun­gen zu knüp­fen. Im Zwei­fel ist das dann die bes­se­re Alternative.

Euro­pas Antwort

Jetzt kann Euro­pa bzw. die EU ver­su­chen, die Kon­fron­ta­ti­on mit Chi­na auf allen Ebe­nen zu suchen. Der Erfolg dürf­te über­schau­bar sein. Chi­nas Vor­stel­lun­gen, was die Men­schen­rech­te betrifft, ist eine ande­re als die der EU. Wäh­rend die EU Men­schen­rech­te als uni­ver­sell gül­tig und unteil­bar betrach­tet, spricht Chi­na von »län­der­spe­zi­fi­schen Wegen zur För­de­rung der Menschenrechte«.

Kei­nes­wegs, so Rud­yak, soll­te die Kon­se­quenz dar­aus sein, jeg­li­che Art der Koope­ra­ti­on mit Chi­na zu ver­mei­den. Jedoch sei tun­lichst dar­auf zu ach­ten, sich nicht unter Pekings begriff­li­chen Schirm zu bege­ben und den häu­fig wachs­wei­chen, mehr­deu­ti­gen chi­ne­si­schen Nar­ra­ti­ven auf den Leim zu gehen. Wer das macht, wird von der KP-Füh­rung schnell dem eige­nen ideo­lo­gi­schen Lager zuge­rech­net. Es sei für deut­sche und euro­päi­sche Akteu­re essen­ti­ell, die Stra­te­gien des chi­ne­si­schen Kon­sens­auf­baus, wie die des Nar­ra­tivs der Schick­sals­ge­mein­schaft, zu verstehen.

Infor­mier­ter Dia­log und stra­te­gi­sche Empathie

Laut Rud­yak benö­tigt eine effek­ti­ve Chi­na-Poli­tik stra­te­gi­sche Empa­thie, wofür wie­der­um mehr Chi­na-Kom­pe­tenz, wie Über­set­zungs- und Ana­ly­se­kom­pe­ten­zen, in Deutsch­land erfor­der­lich ist. Sys­te­mi­sche Riva­li­tät dür­fe nicht in Stra­te­gie­un­fä­hig­keit mün­den. Das Ziel muss ein, Chi­nas stra­te­gi­sches Han­deln bes­ser zu ver­ste­hen, um dar­auf ange­mes­sen reagie­ren zu kön­nen. Wunsch­vor­stel­lun­gen hel­fen da nur bedingt weiter.

Stra­te­gi­sche Empa­thie bedeu­tet hier, Chi­nas Inter­es­sen und Logi­ken zu ver­ste­hen, um loka­le Ent­schei­dun­gen bes­ser ein­ord­nen und gestal­ten zu können.

Schluss­be­trach­tung

Man muss, wie der Ver­fas­ser, kein Sino­lo­gie und Chi­na-Exper­te sein, um wäh­rend der Lek­tü­re zu erken­nen, welch hohen Stel­len­wert stra­te­gi­sches Den­ken, Sprach­re­ge­lun­gen und Erfah­run­gen aus der eige­nen Geschich­te in Chi­na haben. Chi­na ist kein Mys­te­ri­um – im Gegen­teil, es han­delt nach, zwar nicht immer offen­sicht­li­chen, kla­ren Regeln, die aller­dings der jewei­li­gen Situa­ti­on ange­passt wer­den. Im Kern geht es dar­um, zu alter Grö­ße und Bedeu­tung zu gelan­gen und die Welt nach eige­nen Vor­stel­lun­gen zu gestal­ten. Das jedoch auf indi­rek­te, sehr sub­ti­le Wei­se. Neben einem hohen Maß an Intel­li­genz ist da zuwei­len wohl auch ech­te Weis­heit am Wer­ke. Pure Gewalt ist hier nur das letz­te Mittel.

Dar­aus folgt nicht, dass der Wes­ten sich der Stra­te­gie Chi­nas anpas­sen soll­te und müss­te. Ver­ste­hen soll­te man sie auf jeden Fall – im eige­nen Inter­es­se. Denn – so oder so, Chi­na wie über­haupt Asi­en wird in den nächs­ten Jah­ren an welt­wei­ten Ein­fluss gewin­nen – ob uns das gefällt oder nicht.

Das Buch von Rud­yak ist für ein bes­se­res Ver­ständ­nis Chi­nas von gro­ßem Wert, wes­halb ich an die­ser Stel­le mal eine klar Kauf­emp­feh­lung abgebe.

Wer die Bespre­chung im Sti­le eines Pod­casts (auf eng­lisch) hören möch­te, kann dies hier:

Under­stan­ding China’s Stra­te­gic Thinking