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Im Schat­ten der Wol­ken­krat­zer von Man­hat­tan voll­zieht sich ein stil­ler Para­dig­men­wech­sel: JPMor­gan Cha­se zwingt sei­ne Mit­ar­bei­ter zur bio­me­tri­schen Regis­trie­rung. Was die Bank als Sicher­heits­maß­nah­me ver­kauft, könn­te der Anfang einer Über­wa­chungs­kul­tur sein, die den moder­nen Arbeits­platz grund­le­gend ver­än­dert – und dabei eine Fra­ge auf­wirft, die wir viel zu spät stel­len: Wem gehört eigent­lich unser Körper?


Es gibt Momen­te in der Geschich­te der Arbeit, die schein­bar unbe­deu­tend begin­nen und doch eine Zei­ten­wen­de mar­kie­ren. Die Stech­uhr war ein sol­cher Moment. Die E‑Mail ein wei­te­rer. Und nun, in einem 60-stö­cki­gen, drei Mil­li­ar­den Dol­lar teu­ren Glas­turm in Man­hat­tan, voll­zieht sich mög­li­cher­wei­se der nächs­te: JPMor­gan Cha­se, das größ­te Bank­haus der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, macht bio­me­tri­sche Zugangs­kon­trol­len für sei­ne Ange­stell­ten zur Pflicht[1]JP Morgan’s bio­me­tric man­da­te signals new era of work­place sur­veil­lan­ce in finan­ce. Fin­ger­ab­drü­cke oder Augen-Scans – die Wahl zwi­schen zwei For­men der kör­per­li­chen Ver­mes­sung ist die ein­zi­ge Frei­heit, die den Mit­ar­bei­tern bleibt.

Was zunächst als frei­wil­li­ges Ange­bot kom­mu­ni­ziert wur­de, ent­puppt sich nun als Con­di­tio sine qua non: Wer sei­nen Kör­per nicht zur Ver­fü­gung stellt, bleibt drau­ßen. Die Tür zum Arbeits­platz öff­net sich nur noch gegen bio­me­tri­sche Währung.

Die Rhe­to­rik der Sicherheit

JPMor­gan begrün­det die Maß­nah­me mit Sicher­heit – einem Argu­ment, das in sei­ner Uni­ver­sa­li­tät nahe­zu unan­greif­bar scheint. Ein Gewalt­ver­bre­chen in Mid­town, die all­ge­mei­ne Bedro­hungs­la­ge, die Not­wen­dig­keit, Mit­ar­bei­ter zu schüt­zen: Die Nar­ra­ti­ve sind ver­traut, die Logik bestechend ein­fach. Doch Sicher­heit ist ein dehn­ba­rer Begriff, der sich his­to­risch immer dann beson­ders gut eig­ne­te, Frei­hei­ten ein­zu­schrän­ken, wenn man ihn nur ein­dring­lich genug beschwor.

Die Bank ver­spricht Effi­zi­enz und Schutz, eine fir­men­ei­ge­ne App als digi­ta­ler Aus­weis soll das Arbeits­le­ben erleich­tern: Essens­be­stel­lun­gen, Besu­cher­an­mel­dun­gen, naht­lo­se Inte­gra­ti­on in den Arbeits­all­tag. Die Tech­no­lo­gie prä­sen­tiert sich als Kom­fort, als Ser­vice, als Fort­schritt. Doch hin­ter die­ser glat­ten Ober­flä­che ver­birgt sich eine fun­da­men­ta­le Ver­schie­bung im Ver­hält­nis zwi­schen Arbeit­ge­ber und Arbeitnehmer.

Die Unum­kehr­bar­keit des Körpers

Pass­wör­ter kann man ändern. Zugangs­kar­ten kann man erset­zen. Aber Fin­ger­ab­drü­cke? Die Iris des Auges? Die­se Daten sind unver­än­der­lich, an den Kör­per gebun­den, Teil des­sen, was uns als Indi­vi­du­en kon­sti­tu­iert. Ein­mal abge­ge­ben, ein­mal im Sys­tem gespei­chert, blei­ben sie dort – theo­re­tisch für immer, prak­tisch bis zur nächs­ten Datenpanne.

Und hier liegt das eigent­li­che Dilem­ma: Bio­me­tri­sche Daten sind nicht nur Zugangs­codes, sie sind Iden­ti­täts­mar­ker. Ihre Erfas­sung bedeu­tet die Schaf­fung eines digi­ta­len Abbilds des Kör­pers, das sich prin­zi­pi­ell für weit mehr nut­zen lässt als nur das Öff­nen von Türen.

Pro­duk­ti­vi­täts­über­wa­chung, Anwe­sen­heits­kon­trol­le, Bewe­gungs­pro­fi­le – die tech­no­lo­gi­sche Infra­struk­tur ist geschaf­fen, der Rest ist eine Fra­ge des Wil­lens, nicht der Möglichkeiten.

JPMor­gan hat bis­her kei­ne Details zur Daten­spei­che­rung, Ver­schlüs­se­lung oder Gover­nan­ce ver­öf­fent­licht. Die­se Intrans­pa­renz ist bezeich­nend: In einer Welt, in der Ban­ken sonst jeden Com­pli­ance-Pro­zess minu­ti­ös doku­men­tie­ren, herrscht beim Umgang mit den intims­ten Daten ihrer Mit­ar­bei­ter bemer­kens­wer­te Verschwiegenheit.

Die Geo­gra­phie der Macht

Es ist kein Zufall, dass JPMor­gan die­se Maß­nah­me aus­ge­rech­net in New York umsetzt und nicht etwa in Illi­nois, wo stren­ge­re Daten­schutz­ge­set­ze gel­ten. In Lon­don, wo die Bank bereits auf bio­me­tri­sche Sys­te­me setzt, blei­ben sie frei­wil­lig. Die Geo­gra­phie des Daten­schut­zes bestimmt die Geo­gra­phie der Über­wa­chung – und Unter­neh­men wäh­len ihre Schlacht­fel­der ent­spre­chend aus.

Die­se regu­la­to­ri­sche Arbi­tra­ge offen­bart eine Wahr­heit, die wir ungern aus­spre­chen: Der Schutz unse­rer Daten, unse­rer Kör­per, unse­rer Pri­vat­sphä­re hängt weni­ger von uni­ver­sel­len Prin­zi­pi­en ab als von loka­len Gesetz­ge­bun­gen und deren Durch­setz­bar­keit. Was in einer Juris­dik­ti­on als Über­griff gilt, ist in der ande­ren gän­gi­ge Praxis.

Die Nor­ma­li­sie­rung des Unnormalen

Viel­leicht ist es genau die­se Unein­heit­lich­keit, die den eigent­li­chen Scha­den anrich­tet. Denn sie ver­hin­dert, dass sich eine kla­re gesell­schaft­li­che Linie bil­det, eine gemein­sa­me Vor­stel­lung davon, wel­che Gren­zen nicht über­schrit­ten wer­den dür­fen. Statt­des­sen eta­bliert sich ein neu­er Stan­dard durch schlei­chen­de Gewöh­nung: Erst sind es die Flug­hä­fen, dann die Smart­phones, nun die Bürotürme.

Die Sicher­heits­in­dus­trie bewirbt bio­me­tri­sche Sys­te­me als fort­schritt­lich und effi­zi­ent – und sie haben damit nicht ein­mal unrecht. Die Tech­no­lo­gie funk­tio­niert, sie ist prä­zi­se, sie ist bequem. Doch die Fra­ge war nie, ob sie funk­tio­niert. Die Fra­ge war immer: Wol­len wir in einer Welt leben, in der sie zur Norm wird?

Kri­ti­ker war­nen bereits, JPMor­gans Ent­schei­dung könn­te eine neue Ära der Über­wa­chung in Büro­ar­beits­plät­zen ein­läu­ten. Wenn eine Insti­tu­ti­on die­ser Grö­ße und Repu­ta­ti­on den Schritt voll­zieht, wer­den ande­re fol­gen. Der 60-stö­cki­ge Turm in Man­hat­tan wird dann nicht nur ein Haupt­quar­tier sein, son­dern ein Leucht­turm – ein Signal an die gesam­te Bran­che, dass die Zeit reif ist für die bio­me­tri­sche Erfas­sung der Belegschaft.

Die Illu­si­on der Einwilligung

Das Per­fi­de an der Situa­ti­on ist, dass for­mal nie­mand gezwun­gen wird. Wer nicht will, muss ja nicht für JPMor­gan arbei­ten. Die­se Logik klingt libe­ral, ist aber zynisch. Denn sie igno­riert die rea­len Macht­ver­hält­nis­se auf dem Arbeits­markt, die Abhän­gig­kei­ten, die Zwän­ge. Die „freie” Ent­schei­dung, sei­ne Bio­me­trie preis­zu­ge­ben, ist so frei wie die Ent­schei­dung, einen Arbeits­ver­trag zu unter­schrei­ben, wenn die Alter­na­ti­ve Arbeits­lo­sig­keit heißt.

In einer Welt, in der Unter­neh­men zuneh­mend als Gate­kee­per über Zugang zu Lebens­chan­cen fun­gie­ren, ist die Gren­ze zwi­schen Frei­wil­lig­keit und Zwang längst ver­wischt. Und wenn die größ­ten Play­er der Finanz­welt begin­nen, bio­me­tri­sche Daten zur Vor­aus­set­zung für Beschäf­ti­gung zu machen, wird aus einer „Wahl” schnell eine For­ma­li­tät ohne Alternative.

Was auf dem Spiel steht

Es geht hier um mehr als Sicher­heit oder Effi­zi­enz. Es geht um die Fra­ge, wer über unse­ren Kör­per ver­fügt, wer ihn ver­mes­sen, spei­chern, aus­wer­ten darf. Es geht um die Defi­ni­ti­on des­sen, was wir bereit sind zu akzep­tie­ren, wenn wir mor­gens zur Arbeit gehen. Und es geht dar­um, ob wir als Gesell­schaft wil­lens sind, eine Linie zu zie­hen – oder ob wir zuse­hen, wie sie sich ver­schiebt, Zen­ti­me­ter um Zen­ti­me­ter, bis wir uns in einer Welt wie­der­fin­den, die wir nie gewollt haben, aber die wir durch unse­re Pas­si­vi­tät ermög­licht haben.

Der Glas­turm in Man­hat­tan steht nicht nur für archi­tek­to­ni­sche Trans­pa­renz. Er steht für eine neue Form der Durch­sich­tig­keit: die der Ange­stell­ten, ver­mes­sen, erfasst, kon­trol­liert. Und wäh­rend JPMor­gan sei­ne Mit­ar­bei­ter durch bio­me­tri­sche Schleu­sen schickt, soll­ten wir uns fra­gen: Wer wird der Nächs­te sein? Und wann wer­den wir selbst vor die­ser Tür ste­hen, mit der Wahl zwi­schen Fin­ger­ab­druck und Arbeitsplatzverlust?

Die Ant­wort auf die­se Fra­gen wird nicht in Com­pli­ance-Doku­men­ten oder Daten­schutz­richt­li­ni­en zu fin­den sein. Sie wird sich dar­in zei­gen, ob wir bereit sind, den Preis für Bequem­lich­keit und ver­meint­li­che Sicher­heit zu zah­len – mit Daten, die wir nie zurück­be­kom­men wer­den, und einer Nor­ma­li­tät, die wir viel­leicht zu spät bereuen.