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Sechs Mona­te vor sei­nem tra­gi­schen Tod hielt Alfred Herr­hau­sen, der Vor­stands­spre­cher der Deut­schen Bank, eine visio­nä­re Rede[1]Vor­trag zum Über­see-Tag in Ham­burg zum Über­see-Tag in Ham­burg, die heu­te aktu­el­ler denn je erscheint. In Ham­burg frag­te er pro­vo­kant: Stim­men unse­re Denk­mus­ter noch mit der Wirk­lich­keit über­ein? Sei­ne Ant­wort war ein ein­deu­ti­ges Nein – und sei­ne Ana­ly­se der gesell­schaft­li­chen Wider­sprü­che liest sich wie eine Blau­pau­se für die Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Zeit.


In dem Vor­trag for­mu­lier­te Herr­hau­sen grund­le­gen­de Fra­gen an unser Selbst­ver­ständ­nis, unse­re gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren und poli­ti­schen Denk­mus­ter. Auf die kri­ti­sche Fra­ge, ob unser Den­ken tat­säch­lich mit der Wirk­lich­keit über­ein­stimmt, ant­wor­tet er unmiss­ver­ständ­lich: Es gibt zahl­rei­che Wider­sprü­che zwi­schen unse­rem Welt­bild, unse­rem Han­deln und den kom­ple­xen Rea­li­tä­ten, denen wir gegenüberstehen.

Zen­tra­le The­sen und deren Bedeutung

Ver­lust kul­tu­rel­ler Kontexte

Herr­hau­sen dia­gnos­ti­zier­te einen gra­vie­ren­den Ver­lust an kul­tu­rel­lem Zusam­men­hang, Sinn­stif­tung und gemein­sa­men Wer­ten in der moder­nen Gesell­schaft. Er führ­te dies dar­auf zurück, dass vie­le Men­schen den „Weg des gerings­ten Wider­stands“ wäh­len und sich nicht mit der zuneh­men­den Kom­ple­xi­tät auseinandersetzen.

Feh­len­de Über­ein­stim­mung von Den­ken und Wirklichkeit

Ver­ein­fach­tes und feh­ler­haf­tes Den­ken wird als Ursa­che für die Dis­kre­panz zwi­schen indi­vi­du­el­ler Wahr­neh­mung und gesell­schaft­li­cher Rea­li­tät dar­ge­stellt. Die­se Denk­wei­se, die der Kom­ple­xi­tät unse­rer stark dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schaft nicht gerecht wird, führt zu Wider­sprü­chen in Poli­tik, Wirt­schaft und Sozia­lem. Statt sich mit der Rea­li­tät aus­ein­an­der­zu­set­zen, grei­fen vie­le auf Vor­ur­tei­le und vor­ge­fer­tig­te Mei­nun­gen zurück.

Bei­spie­le für Widersprüche

Herr­hau­sen nann­te kon­kre­te Bei­spie­le, die die­se Dis­kre­panz veranschaulichen:

  • Fest­ge­fah­re­ne Strukturen,
  • Über­for­de­rung des Sozialstaats,
  • Miss­ver­ständ­nis­se im Umgang mit Arbeit und Freizeit,
  • Wer­te­wan­del,
  • die wach­sen­de Kluft zwi­schen poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen und den zugrun­de lie­gen­den Problemen.

All die­se Fak­to­ren hem­men indi­vi­du­el­les und kol­lek­ti­ves Wachstum.

Fle­xi­ble, lern­fä­hi­ge Gesell­schaft statt star­re Systeme

Herr­hau­sen plä­dier­te für eine fle­xi­ble und anpas­sungs­fä­hi­ge Gesell­schaft. Star­re Insti­tu­tio­nen und Büro­kra­tie wer­den als Hin­der­nis­se für not­wen­di­ge Inno­va­tions- und Anpas­sungs­pro­zes­se kri­ti­siert. Statt­des­sen for­der­te er ein dezen­tra­les, lern­be­rei­tes Sys­tem in Poli­tik, Wirt­schaft und Gesellschaft.

Sozia­le Ver­ant­wor­tung und Subsidiarität

Sozia­le Ver­ant­wor­tung wird nicht aus­schließ­lich dem Staat zuge­schrie­ben, son­dern auch dem Ein­zel­nen. Herr­hau­sen warn­te davor, dass ein Über­maß an Sozi­al­leis­tun­gen die Eigen­in­itia­ti­ve schwä­chen und die ohne­hin kom­ple­xen Sys­te­me wei­ter ver­fes­ti­gen könnte.

Arbeit und Sinn

Arbeit wird nicht nur als Mit­tel zur Exis­tenz­si­che­rung betrach­tet, son­dern auch als Quel­le von Iden­ti­tät, Struk­tur und Sinn. Ein rei­ner Wer­te­wan­del hin zur Frei­zeit­ge­sell­schaft wird als unzu­rei­chend kri­ti­siert. Viel­mehr sah Herr­hau­sen in der qua­li­ta­ti­ven Ver­än­de­rung von Arbeit – hin zu stär­ker geis­ti­gen und krea­ti­ven Tätig­kei­ten – eine zen­tra­le Her­aus­for­de­rung unse­rer Zeit.

Poli­tik und Realitätsbezug

Die Poli­tik wird auf­ge­for­dert, sich an Fak­ten zu ori­en­tie­ren, statt sich von Zeit­geist, Mei­nungs­um­fra­gen oder popu­lä­ren Nar­ra­ti­ven lei­ten zu las­sen. Gewis­sen, Wis­sen und Ver­ant­wor­tung sol­len die zen­tra­len Leit­li­ni­en poli­ti­schen Han­delns sein. Dabei beton­te Herr­hau­sen die untrenn­ba­re Ver­bin­dung zwi­schen indi­vi­du­el­ler Frei­heit und Verantwortung.

Bewer­tung 

Die Dia­gno­se ist tref­fend und hoch­ak­tu­ell. Moder­ne Gesell­schaf­ten sind extrem kom­plex, und gera­de in die­ser Kom­ple­xi­tät besteht die Gefahr, sich auf schein­bar ein­fa­che Lösun­gen, Vor­ur­tei­le und Schlag­wor­te zurück­zu­zie­hen. Das führt zu einem „Mis­match“ zwi­schen der immer dif­fe­ren­zier­te­ren, glo­ba­li­sier­ten und tech­no­lo­gi­sier­ten Rea­li­tät und unse­ren oft ver­ein­fach­ten, natio­nal oder mecha­nis­tisch gepräg­ten Denkmustern.

Indi­vi­du­el­le Frei­heit ohne Ver­ant­wor­tung ist leer, eben­so wie eine ver­ant­wor­tungs­lo­se Gesell­schaft kei­ne ech­te Frei­heit ermög­li­chen kann. Auch die War­nung vor einer rein kon­sum- und frei­zeit­ori­en­tier­ten Wert­ori­en­tie­rung ist wich­tig, denn sie kann sowohl indi­vi­du­ell als auch gesell­schaft­lich zu Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit und Iden­ti­täts­kri­sen führen.

Kri­tisch anmer­ken lie­ße sich, dass Herr­hau­sen manch­mal die Eigen­ver­ant­wor­tung idea­li­siert und dabei die tat­säch­li­chen gesell­schaft­li­chen Zwän­ge und Unge­rech­tig­kei­ten unzu­rei­chend berück­sich­tigt. In Kri­sen­zei­ten erweist sich die Rol­le des Staa­tes als Aus­gleichs­ak­teur oft als unver­zicht­bar. Jedoch hat der Staat gera­de in Kri­sen­zei­ten die Gewohn­heit, durch über­grif­fi­ges Ver­hal­ten die Eigen­in­itia­ti­ve und Eigen­ver­ant­wor­tung zu unter­mi­nie­ren und die Gunst der Stun­de für sich zu nutzen.

Fazit

Unse­re Denk­mus­ter stim­men viel­fach noch nicht mit den tat­säch­li­chen Rea­li­tä­ten über­ein. Umso wich­ti­ger ist es, uns kon­ti­nu­ier­lich um kri­ti­sche Refle­xi­on, dif­fe­ren­zier­tes Den­ken und ver­ant­wort­li­ches Han­deln zu bemü­hen – indi­vi­du­ell, gesell­schaft­lich und poli­tisch. Genau zu die­sem Nach- und Umden­ken woll­te Herr­hau­sen in sei­ner Rede anregen.

Refe­ren­ces