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Weni­ge Mona­te nach dem EBA-Stress­test, den die BaFin als Sta­bi­li­täts­be­leg wer­te­te, prä­sen­tiert die Bun­des­bank eine „Gesamt­schau” des deut­schen Ban­ken­sek­tors – und warnt vor wach­sen­den Risi­ken. Doch die sys­te­ma­ti­sche Betrach­tung von Wech­sel­wir­kun­gen ver­schie­de­ner Risi­ko­fak­to­ren soll­te ana­ly­ti­scher Stan­dard sein, nicht nach­träg­li­che Erkennt­nis. Der zeit­li­che Ver­satz offen­bart: Was die Bun­des­bank als umfas­sen­de Gesamt­schau prä­sen­tiert, hät­te von Anfang an in die Risi­ko­be­wer­tung ein­flie­ßen müssen.


Die zwei Gesich­ter der Finanzstabilität

Die deut­sche Finanz­auf­sicht sen­det wider­sprüch­li­che Signa­le im Wochen­rhyth­mus. Zunächst prä­sen­tier­te die Bun­des­an­stalt für Finanz­dienst­leis­tungs­auf­sicht (BaFin) die Ergeb­nis­se des EBA-Stress­tests als Beleg für die Robust­heit deut­scher Kre­dit­in­sti­tu­te. Die Ban­ken sei­en dank soli­der Kapi­tal­aus­stat­tung auch unter ver­schärf­ten wirt­schaft­li­chen Bedin­gun­gen wider­stands­fä­hig. Nur weni­ge Mona­te spä­ter zeich­net die Bun­des­bank in ihrer aktu­el­len „Gesamt­schau” ein deut­lich düs­te­re­res Bild: stei­gen­de not­lei­den­de Kre­di­te, gefähr­li­che Sys­tem­ver­flech­tun­gen und wach­sen­de Staats­ver­schul­dung bedro­hen die Sta­bi­li­tät des Finanzsektors.

Die­ser zeit­li­che Ver­satz ist mehr als eine Fuß­no­te – er offen­bart eine kon­zep­tio­nel­le Schwä­che in der Bewer­tung von Finanz­sta­bi­li­tät und wirft die Fra­ge auf, wie sich das Risi­ko­bild inner­halb weni­ger Mona­te, Wochen der­art fun­da­men­tal wan­deln kann.

Die Gren­zen retro­spek­ti­ver Stresstests

Die BaFin stütz­te ihre posi­ti­ve Ein­schät­zung auf stan­dar­di­sier­te Stress­tests, die gemein­sam mit der Euro­päi­schen Zen­tral­bank (EZB) und ande­ren euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen durch­ge­führt wer­den. Die­se Tests simu­lie­ren wid­ri­ge Sze­na­ri­en und prü­fen, ob die Kapi­tal­pols­ter der Ban­ken aus­rei­chen, um Ver­lus­te auf­zu­fan­gen. Das Pro­blem: Die­se Sze­na­ri­en basie­ren zwangs­läu­fig auf his­to­ri­schen Daten und ver­gan­ge­nen Krisenmustern.

Die Bun­des­bank for­mu­liert die­se metho­di­sche Limi­ta­ti­on in ihrer aktu­el­len Ana­ly­se expli­zit: Die bis­he­ri­ge Stär­ke der Ban­ken­puf­fer beruht auf der Ana­ly­se ver­gan­ge­ner Ereig­nis­se, doch zukünf­ti­ge Kri­sen könn­ten ande­re Anfor­de­run­gen stel­len. Anders aus­ge­drückt: Stress­tests tes­ten vor allem die Fähig­keit, die letz­te Kri­se zu über­le­ben – nicht die nächs­te. Die­se rück­wärts­ge­wand­te Logik igno­riert struk­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen und neu­ar­ti­ge Risi­ko­kom­bi­na­tio­nen, die sich in weni­gen Wochen nicht grund­le­gend ver­än­dert haben dürften.

Die unter­schätz­te Systemik

Beson­ders auf­schluss­reich ist die War­nung der Bun­des­bank vor den engen Ver­knüp­fun­gen zwi­schen Ban­ken, Ver­si­che­run­gen und Fonds. Die­se Ver­flech­tun­gen schaf­fen Trans­mis­si­ons­ka­nä­le, über die sich Schocks im gesam­ten Finanz­sys­tem aus­brei­ten kön­nen. Die Finanz­kri­se 2008 hat gezeigt, wie schnell ver­meint­lich iso­lier­te Pro­ble­me sys­te­mi­sche Dimen­sio­nen anneh­men können.

Die stei­gen­den not­lei­den­den Kre­di­te ver­schär­fen die­se Gefahr zusätz­lich. Wenn sich die­se Ten­denz – wie von der Bun­des­bank beob­ach­tet – ver­fes­tigt, belas­tet dies nicht nur ein­zel­ne Insti­tu­te, son­dern kann über Ver­brie­fun­gen, Inter­ban­ken­märk­te und gemein­sa­me Risi­ko­ex­po­si­tio­nen Ket­ten­re­ak­tio­nen aus­lö­sen. Die posi­ti­ve Bewer­tung der BaFin erscheint vor die­sem Hin­ter­grund als iso­lier­te Betrach­tung ein­zel­ner Bilanz­kenn­zah­len, die das sys­te­mi­sche Gesamt­bild aus­blen­det – ein Gesamt­bild, das sich inner­halb weni­ger Wochen kaum dra­ma­tisch ver­än­dert haben kann.

Die poli­ti­sche Dimen­si­on: Staats­ver­schul­dung als Zeitbombe

Die Bun­des­bank nennt expli­zit die stei­gen­de Staats­ver­schul­dung als poten­zi­el­le Gefähr­dung. Die­ser Punkt ist poli­tisch bri­sant und wur­de in der BaFin-Inter­pre­ta­ti­on des Stress­tests aus­ge­spart. Dabei sind die Risi­ken evi­dent: Ban­ken hal­ten erheb­li­che Bestän­de an Staats­an­lei­hen, die bei stei­gen­den Zin­sen oder Boni­täts­ver­schlech­te­run­gen zu Ver­lus­ten füh­ren. Die ver­meint­lich risi­ko­freie Anla­ge­klas­se könn­te sich als Achil­les­fer­se erwei­sen – ein Sze­na­rio, das in Stress­tests sys­te­ma­tisch unter­ge­wich­tet wird.

„Gesamt­schau” als Selbst­ver­ständ­lich­keit, nicht als Leistung

Die Bun­des­bank ver­steht unter ihrer „Gesamt­schau” eine umfas­sen­de, sys­te­ma­ti­sche Betrach­tung des Finanz­sys­tems und sei­nes makro­fi­nan­zi­el­len Umfelds. Sie betrach­tet nicht nur ein­zel­ne Risi­ko­fak­to­ren iso­liert, son­dern erfasst die Wech­sel­wir­kun­gen ver­schie­de­ner Risi­ken – Kon­junk­tur­flau­te, geo­po­li­ti­sche Span­nun­gen, Kre­dit­aus­fäl­le, Han­dels­kon­flik­te, Unter­neh­mens­in­sol­ven­zen, Staats­ver­schul­dung – in ihrer Gesamt­heit. Ziel ist, zu bewer­ten, wie sich das makro­fi­nan­zi­el­le Umfeld im zurück­lie­gen­den Jahr ver­än­dert hat und wie die­se Ver­än­de­run­gen die Sta­bi­li­tät des Ban­ken­sek­tors beeinflussen.

Die­se Defi­ni­ti­on klingt metho­disch soli­de und ver­nünf­tig. Doch sie wirft eine fun­da­men­ta­le Fra­ge auf: War­um wird eine sol­che inte­gra­ti­ve Betrach­tung als etwas Beson­de­res prä­sen­tiert, das einer eige­nen begriff­li­chen Kenn­zeich­nung bedarf? Die sys­te­ma­ti­sche Erfas­sung von Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen ver­schie­de­nen Risi­ko­fak­to­ren soll­te kein nach­träg­li­cher Son­der­akt sein, son­dern ana­ly­ti­scher Grund­stan­dard bei jeder Risikobewertung.

Die von der Bun­des­bank genann­ten Fak­to­ren – Kon­junk­tur­ent­wick­lung, Finanz­markt­ver­än­de­run­gen, Insol­ven­zen, Kre­dit­ri­si­ken, Staats­ver­schul­dung – waren bereits zum Zeit­punkt des EBA-Stress­tests bekannt und für infor­mier­te Beob­ach­ter seit Mona­ten erkenn­bar. Die geo­po­li­ti­schen Span­nun­gen sind nicht über Nacht ent­stan­den, die Kon­junk­tur­schwä­che war abseh­bar, die stei­gen­den Insol­venz­zah­len zeich­ne­ten sich ab. War­um bedurf­te es also eini­ge Wochen nach dem posi­ti­ven Stress­test einer beson­de­ren „Gesamt­schau”, um die­se Fak­to­ren in ihrem Zusam­men­spiel zu bewerten?

Der Kon­trast zu Edgar Salin: Wo bleibt die Anschauung?

Inter­es­san­ter­wei­se könn­te man gera­de hier eine Par­al­le­le zu Edgar Sal­ins Kon­zept der „anschau­en­den Öko­no­mie” zie­hen – aller­dings in kri­ti­scher Absicht. Salin for­der­te eine ganz­heit­li­che, intui­ti­ve Erfas­sung wirt­schaft­li­cher Zusam­men­hän­ge jen­seits rein quan­ti­ta­ti­ver Model­le, gera­de um struk­tu­rel­le Brü­che und sys­te­mi­sche Ver­flech­tun­gen zu anti­zi­pie­ren, die for­ma­le Model­le übersehen.

Doch wäh­rend Sal­ins Ansatz auf pro­spek­ti­ve Intui­ti­on und vor­aus­schau­en­de Urteils­kraft ziel­te, wirkt die „Gesamt­schau” der Bun­des­bank eher retro­spek­tiv-dia­gnos­tisch. Sie kon­sta­tiert nach­träg­lich Risi­ken, statt sie vor­aus­schau­end zu anti­zi­pie­ren. Eine ech­te anschau­en­de Öko­no­mie hät­te die sys­te­mi­schen Wech­sel­wir­kun­gen bereits vor dem Stress­test erfasst und kom­mu­ni­ziert – nicht erst Wochen später.

Die „Gesamt­schau” der Bun­des­bank ist damit metho­disch das Gegen­teil von Sal­ins Pro­gramm: Sie ist nicht visio­nä­re Anschau­ung, son­dern nach­träg­li­che Bestands­auf­nah­me; nicht intui­ti­ve Anti­zi­pa­ti­on, son­dern sys­te­ma­ti­sche Inven­tur bereits ein­ge­tre­te­ner Entwicklungen.

Die frag­wür­di­ge Nor­ma­li­tät des Besonderen

Das eigent­lich Pro­ble­ma­ti­sche an der „Gesamt­schau” ist nicht ihre Metho­dik – die Berück­sich­ti­gung von Wech­sel­wir­kun­gen ist zwei­fel­los sinn­voll –, son­dern ihre Prä­sen­ta­ti­on als etwas Beson­de­rem. Wenn die Inte­gra­ti­on ver­schie­de­ner Risi­ko­di­men­sio­nen und die Bewer­tung ihres Zusam­men­spiels tat­säch­lich Stan­dard wären, bräuch­te es kei­nen eige­nen Begriff dafür. Die ter­mi­no­lo­gi­sche Her­vor­he­bung sug­ge­riert, dass hier etwas Außer­ge­wöhn­li­ches geleis­tet wird, das über die übli­che Ana­ly­se hinausgeht.

Doch genau das soll­te nicht der Fall sein. Eine Finanz­auf­sicht, die erst nach­träg­lich fest­stellt, dass ver­schie­de­ne Risi­ko­fak­to­ren im Zusam­men­spiel wir­ken, hat ihre Auf­ga­be nicht erfüllt. Die Fra­ge ist nicht, ob die Bun­des­bank jetzt eine „Gesamt­schau” durch­führt, son­dern war­um die­se Per­spek­ti­ve nicht bereits von Anfang an in die Bewer­tung ein­ge­flos­sen ist.

Der zeit­li­che Ver­satz zwi­schen BaFin-Opti­mis­mus und Bun­des­bank-War­nung legt nahe, dass die ver­schie­de­nen Insti­tu­tio­nen mit unter­schied­li­chen Ana­ly­se­ho­ri­zon­ten arbei­ten: Die BaFin kon­zen­triert sich auf mikro­öko­no­mi­sche Stress­tests ein­zel­ner Insti­tu­te, die Bun­des­bank auf makro­fi­nan­zi­el­le Sys­tem­ri­si­ken. Bei­de Per­spek­ti­ven sind not­wen­dig – aber war­um wer­den sie nicht von vorn­her­ein inte­griert? War­um bedarf es einer nach­träg­li­chen „Gesamt­schau”, um zu erken­nen, was bereits vor­her erkenn­bar war?

Insti­tu­tio­nel­le Frag­men­tie­rung statt inte­grier­ter Aufsicht

Der Begriff „Gesamt­schau” offen­bart unge­wollt ein Defi­zit: Er zeigt, dass die deut­sche Finanz­auf­sicht offen­bar frag­men­tiert arbei­tet. Stress­tests erfas­sen mikro­öko­no­mi­sche Sta­bi­li­tät, sepa­ra­te Ana­ly­sen bewer­ten makro­fi­nan­zi­el­le Risi­ken – und erst in einer nach­träg­li­chen „Gesamt­schau” wer­den bei­de Per­spek­ti­ven zusam­men­ge­führt. Die­se sequen­zi­el­le Logik wider­spricht moder­nen Anfor­de­run­gen an Finanzstabilität.

Eine inte­grier­te Risi­ko­ana­ly­se wür­de von vorn­her­ein sowohl insti­tu­tio­nel­le Wider­stands­fä­hig­keit als auch sys­te­mi­sche Ver­flech­tun­gen, sowohl his­to­ri­sche Mus­ter als auch struk­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen, sowohl quan­ti­ta­ti­ve Kenn­zah­len als auch qua­li­ta­ti­ve Ein­schät­zun­gen des makro­öko­no­mi­schen Umfelds berück­sich­ti­gen. Die Tat­sa­che, dass dies offen­bar nicht geschieht und statt­des­sen nach­träg­lich eine „Gesamt­schau” erfor­der­lich ist, deu­tet auf metho­di­sche und insti­tu­tio­nel­le Defi­zi­te hin.

Fazit:

Die deut­schen Ban­ken mögen im Sin­ne regu­la­to­ri­scher Kenn­zah­len sta­bil sein, doch das makro­fi­nan­zi­el­le Umfeld war bereits zum Zeit­punkt des EBA-Stress­tests deut­lich unsi­che­rer, als die BaFin-Inter­pre­ta­ti­on sug­ge­rier­te. Die Bun­des­bank prä­sen­tiert nun ihre „Gesamt­schau” – doch statt einer beson­de­ren ana­ly­ti­schen Leis­tung han­delt es sich um das, was von Anfang an hät­te Stan­dard sein müssen.

Die sys­te­ma­ti­sche Betrach­tung von Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Kon­junk­tur, Geo­po­li­tik, Insol­ven­zen, Kre­dit­ri­si­ken und Staats­ver­schul­dung ist kein Son­der­akt, son­dern soll­te selbst­ver­ständ­li­cher Bestand­teil jeder Finanz­sta­bi­li­täts­ana­ly­se sein. Die Tat­sa­che, dass die­se Per­spek­ti­ve ter­mi­no­lo­gisch her­vor­ge­ho­ben und zeit­lich nach­ge­la­gert wird, offen­bart eine insti­tu­tio­nel­le Frag­men­tie­rung, die bekann­te Risi­ken erst nach­träg­lich als über­ra­schen­de Erkennt­nis­se präsentiert.

Erfor­der­lich wäre eine von vorn­her­ein inte­grier­te Risi­ko­ana­ly­se, die mikro­öko­no­mi­sche Sta­bi­li­tät und makro­fi­nan­zi­el­le Risi­ken nicht sequen­zi­ell, son­dern simul­tan erfasst. Solan­ge die Auf­sicht zwi­schen regu­la­to­ri­schem Opti­mis­mus und nach­träg­li­cher „Gesamt­schau” pen­delt, bleibt die Fra­ge offen: Ist die dia­gnos­ti­zier­te Sta­bi­li­tät deut­scher Ban­ken Sub­stanz oder das Ergeb­nis ana­ly­ti­scher Silo-Men­ta­li­tät? Die Ant­wort könn­te sich in der nächs­ten Kri­se zei­gen – dann aller­dings zu spät.


Quel­len:

EBA-Stress­test: Kapi­tal­quo­ten deut­scher Lan­des­ban­ken sin­ken teils dras­tisch – Bafin sieht den­noch Stabilität 

Star­ke Leis­tung der Ban­ken im Stress­test ist beru­hi­gend – wel­che star­ke Leistung?

Bun­des­bank warnt vor wach­sen­den Risi­ken für Banken