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In den Büro­tür­men der Wei­ma­rer Repu­blik ent­deck­te Sieg­fried Kra­cau­er eine fun­da­men­ta­le Täu­schung: Men­schen, die sich für Indi­vi­du­en hiel­ten, waren längst zu aus­tausch­ba­ren Tei­len einer Maschi­ne­rie gewor­den. Sei­ne Ana­ly­se von 1930 liest sich heu­te wie eine Pro­phe­zei­ung unse­rer eige­nen Arbeitswelt.


Es gibt Bücher, die ihre Zeit über­dau­ern, weil sie nicht nur beschrei­ben, was ist, son­dern durch­schau­en, was sein will und doch nicht ist. Sieg­fried Kra­cau­ers „Die Ange­stell­ten” aus dem Jahr 1930 gehört zu die­sen sel­te­nen Wer­ken. In den Büros, Waren­häu­sern und Ver­wal­tun­gen der Wei­ma­rer Repu­blik beob­ach­te­te Kra­cau­er eine neue sozia­le Figur: den Ange­stell­ten, der weder Arbei­ter noch Bour­geois war, son­dern etwas Drit­tes, etwas Hybri­des – und gera­de des­halb zum Schlüs­sel für das Ver­ständ­nis der moder­nen Gesell­schaft wurde.

Die Ange­stell­ten: Eine Klas­se zwi­schen den Stühlen

Was Kra­cau­er mit eth­no­gra­phi­scher Prä­zi­si­on doku­men­tiert, ist die Geburt einer gesell­schaft­li­chen Schicht, die ihre Exis­tenz auf einem Wider­spruch grün­det. Die Ange­stell­ten tra­gen die äuße­ren Insi­gni­en bür­ger­li­chen Lebens: Sie bezie­hen ein Monats­ge­halt statt eines Wochen­lohns, sie arbei­ten mit dem Kopf statt mit den Hän­den, sie tra­gen wei­ße Kra­gen statt blau­er Over­alls. All die­se Merk­ma­le sug­ge­rie­ren eine Nähe zum Bür­ger­tum, eine Distanz zur Arbei­ter­schaft, einen Sta­tus, der über dem blo­ßen Pro­le­ta­ri­at steht.

Doch Kra­cau­er erkennt, dass die­se Distink­tio­nen zuneh­mend hohl sind. Die mate­ri­el­le Basis, die einst bür­ger­li­ches Leben aus­mach­te – öko­no­mi­sche Unab­hän­gig­keit, Besitz, Gestal­tungs­macht – ist für die meis­ten Ange­stell­ten eben­so uner­reich­bar wie für die Fabrik­ar­bei­ter. Was bleibt, ist eine Fas­sa­de, ein „mit­tel­stän­di­sches” Selbst­ver­ständ­nis, das auf Tra­di­ti­ons­res­ten ruht und zuneh­mend zur Mas­ke­ra­de wird. Die Ange­stell­ten leben nicht bür­ger­lich, sie spie­len Bürgerlichkeit.

Das fal­sche Bewusst­sein: Distink­ti­on als Selbsttäuschung

Der Begriff des „fal­schen Bewusst­seins” durch­zieht Kra­cau­ers Ana­ly­se wie ein roter Faden. Gemeint ist damit nicht ein­fach ein Irr­tum oder eine Lüge, son­dern eine struk­tu­rel­le Selbst­täu­schung: Die Ange­stell­ten hal­ten an sozia­len Unter­schei­dun­gen fest, die ihnen objek­tiv nichts nüt­zen – mehr noch, die ihrer eige­nen Eman­zi­pa­ti­on im Weg ste­hen. Sie gren­zen sich nach unten ab, zu den Arbei­tern, obwohl ihre Lebens­la­gen sich zuneh­mend ähneln. Sie kul­ti­vie­ren einen Indi­vi­dua­lis­mus, der längst zur blo­ßen Ges­te gewor­den ist, wäh­rend die rea­le Orga­ni­sa­ti­on ihrer Arbeit sie zu aus­tausch­ba­ren Funk­ti­ons­trä­gern macht.

In den ratio­na­li­sier­ten Büros der zwan­zi­ger Jah­re voll­zieht sich eine Tay­lo­ri­sie­rung der Kopf­ar­beit, eine Stan­dar­di­sie­rung und Frag­men­tie­rung, die der indus­tri­el­len Fließ­band­pro­duk­ti­on in nichts nach­steht. Die Ange­stell­te an der Schreib­ma­schi­ne ist nicht weni­ger Räd­chen im Sys­tem als der Arbei­ter an der Stanz­ma­schi­ne. Doch wäh­rend der Arbei­ter sei­ne Klas­sen­la­ge erken­nen und dar­aus poli­ti­sche Schlüs­se zie­hen kann, ver­wei­gert sich der Ange­stell­te die­ser Ein­sicht. Sein Indi­vi­dua­lis­mus ist zur Ideo­lo­gie gewor­den, zu einem Glau­bens­satz, der die Rea­li­tät ver­schlei­ert statt sie zu erhellen.

Ober­flä­chen der Einzigartigkeit

Was den Ange­stell­ten bleibt, sind Frag­men­te sym­bo­li­scher Distink­ti­on: die Art, wie man sich klei­det, wel­ches Café man besucht, wel­che kul­tu­rel­len Prä­fe­ren­zen man pflegt. Kra­cau­er beschreibt mit fei­nem Gespür für das Detail, wie sich Iden­ti­tät auf Kon­sum und Lebens­stil ver­la­gert. Der Wunsch nach Ein­zig­ar­tig­keit, nach Unver­wech­sel­bar­keit, wird nicht mehr in der Arbeit selbst ver­wirk­licht – dort ist man längst aus­tausch­bar gewor­den –, son­dern in der Frei­zeit, im Pri­va­ten, in den klei­nen Ges­ten des guten Geschmacks.

Die­se Ver­la­ge­rung ist fol­gen­reich: Sie pri­va­ti­siert gesell­schaft­li­che Fra­gen, sie ver­wan­delt struk­tu­rel­le Pro­ble­me in indi­vi­du­el­le Life­style-Ent­schei­dun­gen. Die Ange­stell­ten kämp­fen nicht für bes­se­re Arbeits­be­din­gun­gen oder für poli­ti­sche Teil­ha­be, sie kämp­fen für die Wah­rung sym­bo­li­scher Gren­zen, die ihrer rea­len Lage nicht mehr entsprechen.

Die Aktua­li­tät einer alten Diagnose

Wer Kra­cau­ers Ana­ly­se heu­te liest, wird von der Aktua­li­tät die­ser Beob­ach­tun­gen über­rascht sein. Die Arbeits­welt des 21. Jahr­hun­derts insze­niert sich ger­ne als Gegen­ent­wurf zur Ver­gan­gen­heit: fla­che Hier­ar­chien statt stei­ler Pyra­mi­den, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on statt Com­mand-and-Con­trol, agi­le Teams statt star­rer Abtei­lun­gen. Die Rhe­to­rik der „New Work” ver­spricht Auto­no­mie, Sinn­stif­tung, die Ver­ein­bar­keit von Arbeit und Leben.

Doch unter der Ober­flä­che die­ser Ver­spre­chen lau­ern ähn­li­che Mecha­nis­men wie zu Kra­cau­ers Zei­ten. Die Digi­ta­li­sie­rung hat die Stan­dar­di­sie­rung und Kon­trol­le von Arbeit nicht auf­ge­ho­ben, son­dern ver­fei­nert. Algo­rith­men über­wa­chen Pro­duk­ti­vi­tät mit einer Prä­zi­si­on, von der der Tay­lo­ris­mus nur träu­men konn­te. Die Fle­xi­bi­li­sie­rung der Arbeits­welt – das Home­of­fice, die pro­jekt­ba­sier­te Beschäf­ti­gung, die stän­di­ge Erreich­bar­keit – hat die Gren­zen zwi­schen Arbeit und Leben nicht auf­ge­löst zuguns­ten grö­ße­rer Frei­heit, son­dern oft zuguns­ten tota­ler Verfügbarkeit.

Und auch das fal­sche Bewusst­sein hat sich trans­for­miert, nicht ver­schwun­den. Die heu­ti­gen „Wis­sens­ar­bei­ter” pfle­gen ihre eige­nen For­men sym­bo­li­scher Distink­ti­on: die rich­ti­ge Start-up-Kul­tur, die kor­rek­ten poli­ti­schen Hal­tun­gen, die ange­sag­te Kon­sum­ethik. Man arbei­tet nicht mehr nur für Geld, man arbei­tet für „Pur­po­se”, für Sinn – als ob die Sinn­fra­ge die Macht­fra­ge erset­zen könn­te. Man insze­niert sich als krea­tiv, ein­zig­ar­tig, uner­setz­lich, wäh­rend die Platt­form­öko­no­mie täg­lich demons­triert, wie aus­tausch­bar selbst hoch­qua­li­fi­zier­te Arbeit gewor­den ist.

Zwi­schen Schein und Sein

Was Kra­cau­ers Ana­ly­se so wert­voll macht, ist ihre scho­nungs­lo­se Prä­zi­si­on in der Dia­gno­se des Wider­spruchs zwi­schen Selbst­bild und Rea­li­tät. Die Ange­stell­ten sei­ner Zeit – und viel­leicht auch die unse­ren – leben in einer per­ma­nen­ten Span­nung zwi­schen dem, was sie zu sein glau­ben, und dem, was sie objek­tiv sind. Sie hal­ten an For­men der Iden­ti­täts­stif­tung fest, die ihrer tat­säch­li­chen gesell­schaft­li­chen Posi­ti­on nicht mehr entsprechen.

Die­se Span­nung ist nicht nur indi­vi­du­ell schmerz­haft, sie hat auch poli­ti­sche Kon­se­quen­zen. Ein fal­sches Bewusst­sein der eige­nen Lage erschwert Soli­da­ri­tät, ver­hin­dert kol­lek­ti­ves Han­deln, frag­men­tiert mög­li­che Gegen­macht. Wenn jeder sich für ein Indi­vi­du­um hält, das durch eige­ne Leis­tung auf­steigt oder fällt, wenn jeder die eige­ne Pre­ka­ri­tät als per­sön­li­ches Ver­sa­gen deu­tet statt als struk­tu­rel­les Pro­blem – dann fehlt die Grund­la­ge für gesell­schaft­li­che Veränderung.

Ein Spie­gel der Gegenwart

Kra­cau­ers „Die Ange­stell­ten” ist kein his­to­ri­sches Doku­ment, das man ehr­fürch­tig ins Archiv stellt. Es ist ein Spie­gel, der uns unbe­que­me Fra­gen stellt: Wie viel von unse­rer eige­nen Arbeits­welt beruht auf ähn­li­chen Fas­sa­den? Wie viel von dem, was uns als Fort­schritt ver­kauft wird, ist blo­ße Umde­ko­rie­rung alter Herr­schafts­for­men? Und vor allem: Wie viel von unse­rem eige­nen Selbst­ver­ständ­nis als auto­no­me, selbst­be­stimm­te Indi­vi­du­en ist tat­säch­lich Aus­druck rea­ler Gestal­tungs­macht – und wie viel nur die neu­es­te Ver­si­on jener „mit­tel­stän­di­schen Lebens­auf­fas­sung”, die Kra­cau­er schon 1930 als Illu­si­on durchschaute?

Die Fra­gen blei­ben offen. Das ist viel­leicht die größ­te Stär­ke die­ses schma­len, unprä­ten­tiö­sen Buches: Es gibt kei­ne fer­ti­gen Ant­wor­ten, es öff­net nur die Augen. Und manch­mal ist das Sehen-Kön­nen schon der ers­te Schritt zur Veränderung.