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Wer bin ich, wenn die Orga­ni­sa­ti­on weg­fällt? Ein Bei­trag über Macht, Sta­tus und die schmerz­haf­te Erkennt­nis, dass gesell­schaft­li­che Bedeu­tung oft nur gelie­hen ist – und dar­über, wie Orga­ni­sa­tio­nen ihre Schöp­fer über­le­ben und zu unsterb­li­chen Büh­nen wer­den, auf denen Men­schen ver­gäng­li­che Rol­len spielen.


Es gibt einen unfehl­ba­ren Test für die Fra­ge, wer ein Mensch wirk­lich ist: Man neh­me ihm die Orga­ni­sa­ti­on weg. Was bleibt übrig, wenn der Wirt­schafts­füh­rer sei­nen Kon­zern ver­lässt, wenn der Mana­ger kei­ne Abtei­lung mehr lei­tet, wenn der Direk­tor kein Büro mehr hat? Die­se schein­bar bana­le Fra­ge ent­larvt eine der fun­da­men­tals­ten Wahr­hei­ten unse­rer moder­nen Indus­trie­ge­sell­schaft: Die Iden­ti­tät des Men­schen ist untrenn­bar mit sei­ner insti­tu­tio­nel­len Ver­an­ke­rung verwoben.

Die Per­for­mance der Macht

Der Auf­stieg inner­halb einer Orga­ni­sa­ti­on ist mehr als nur eine Kar­rie­re. Er ist ein Pro­zess der Ver­schmel­zung zwi­schen Per­son und Insti­tu­ti­on, bei dem die Gren­zen zuneh­mend ver­schwim­men. Der erfolg­rei­che Mana­ger beginnt, die Macht der Orga­ni­sa­ti­on als sei­ne eige­ne zu emp­fin­den. Die Ent­schei­dun­gen, die er im Namen des Unter­neh­mens trifft, erschei­nen ihm als Aus­druck sei­ner Per­sön­lich­keit, sei­ner Fähig­kei­ten, sei­nes Wesens.

Doch was hier geschieht, lässt sich mit Erving Goff­mans dra­ma­tur­gi­schem Modell prä­zi­se ana­ly­sie­ren: Der Mana­ger betritt eine Vor­der­büh­ne, die ihm die Orga­ni­sa­ti­on bereit­stellt. Der Pri­vat-Jet ist nicht nur ein Trans­port­mit­tel – er ist eine Requi­si­te in einer sorg­fäl­tig insze­nier­ten Per­for­mance. Die Sekre­tä­rin, die Anru­fe fil­tert, ist Teil der Büh­nen­ma­schi­ne­rie. Die Ein­la­dun­gen zu Kon­fe­ren­zen, die Arti­kel in Wirt­schafts­ma­ga­zi­nen, die ehr­furchts­vol­len Bli­cke bei Emp­fän­gen – all das sind Ele­men­te einer Insze­nie­rung, in der die Haupt­rol­le klar defi­niert ist: der mäch­ti­ge, bedeut­sa­me Wirtschaftsführer.

Das Tücki­sche an die­ser Per­for­mance ist ihre Über­zeu­gungs­kraft. Klei­dung, Mimik, Kör­per­hal­tung, die gesam­te Selbst­dar­stel­lung ver­schmel­zen zu einem stim­mi­gen Bild. Der Mana­ger glaubt schließ­lich selbst an sei­ne Rol­le. Er hält die Requi­si­ten für Sym­bo­le sei­ner per­sön­li­chen Grö­ße, die Büh­ne für sein natür­li­ches Habi­tat, das Publi­kum für Zeu­gen sei­ner außer­ge­wöhn­li­chen Qua­li­tä­ten. Er ver­wech­selt die Per­for­mance mit sei­nem wah­ren Selbst.

Dabei offen­bart sich ein fun­da­men­ta­les Prin­zip: Das Selbst ist, wie Goff­man gezeigt hat, ein Zuschrei­bungs­pro­dukt. Man ist das, als was die ande­ren einen wahr­neh­men. Die Macht, die der Mana­ger aus­übt, ent­springt nicht sei­nem Wesen, son­dern sei­ner Posi­ti­on. Was er für per­sön­li­ches Cha­ris­ma hält, ist oft nichts ande­res als die aus­ge­lie­he­ne Auto­ri­tät der Insti­tu­ti­on. Und die­se Posi­ti­on – die­se Rol­le auf der orga­ni­sa­to­ri­schen Büh­ne – ist vergänglich.

Der Zusam­men­bruch der Inszenierung

Der Moment des Aus­schei­dens aus der Orga­ni­sa­ti­on offen­bart die­se Wahr­heit mit bru­ta­ler Klar­heit. In Goff­mans Ter­mi­no­lo­gie: Die Vor­der­büh­ne wird dem Dar­stel­ler ent­zo­gen. Plötz­lich ver­stum­men die Tele­fo­ne. Die Ein­la­dun­gen wer­den sel­te­ner, die Anfra­gen blei­ben aus. Der ehe­ma­li­ge Vor­stands­vor­sit­zen­de, der einst Märk­te beweg­te und über Schick­sa­le ent­schied, fin­det sich in Auf­sichts­rä­ten wie­der, in denen er schwei­gend dasitzt – gedul­det, aber nicht mehr gefragt.

Ein beson­ders anschau­li­ches Bei­spiel für die­sen Abstieg fin­det sich in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft der Zwil­lings­tür­me der Deut­schen Bank in Frank­furt. In einem unschein­ba­ren Neben­ge­bäu­de resi­die­ren zahl­rei­che ehe­ma­li­ge Vor­stän­de der Bank – jedoch in einem deut­lich beschei­de­ne­ren Ambi­en­te als zu ihrer akti­ven Zeit. Was einst Eck­bü­ros mit Pan­ora­ma­blick waren, sind heu­te Schuh­kar­tons in Büro­form. Das „Ster­be­haus”, wie die­ses Gebäu­de genannt wird, ist eine archi­tek­to­ni­sche Meta­pher für den sozia­len Tod bei leben­di­gem Leibe.

Die Deut­sche Bank, die 1985 noch als „Welt­macht” gefei­ert wur­de, deren Vor­stän­de die Wirt­schafts­welt beweg­ten, hat ihre ehe­ma­li­gen Spit­zen­ma­na­ger räum­lich und sym­bo­lisch an den Rand gedrängt. Ohne Macht­ba­sis, ohne Ein­fluss bewe­gen sich die­se Män­ner den­noch in dem Gefühl, noch immer Teil einer beson­de­ren Gemein­schaft zu sein, eines „Ordens”, wie ein Beob­ach­ter es for­mu­lier­te. Sie klam­mern sich an die Illu­si­on der Zuge­hö­rig­keit zu einer Éli­te, die sie längst nicht mehr haben will.

Die­se Sze­ne ist kaf­ka­esk im wahrs­ten Sin­ne: Men­schen, die sich wei­gern, die neue Rea­li­tät anzu­er­ken­nen, die in einer Schein­welt leben, in der sie noch immer bedeut­sam sind. Sie sit­zen in ihren klei­nen Büros und spie­len eine Rol­le, für die es längst kein Publi­kum mehr gibt. Die Büh­ne ist ihnen ent­zo­gen wor­den, aber sie füh­ren die Per­for­mance fort – vor lee­ren Rängen.

Was hier geschieht, ist mehr als nur ein Sta­tus­ver­lust. Es ist der Kol­laps einer sorg­fäl­tig kon­stru­ier­ten Iden­ti­tät. Die Requi­si­ten der Macht sind ver­schwun­den – der Pri­vat-Jet, das Eck­bü­ro, die ehr­furchts­vol­le Entou­ra­ge. Ohne die­se Ele­men­te kann die Per­for­mance nicht mehr auf­recht­erhal­ten wer­den. Und ohne die Per­for­mance gibt es kei­ne Zuschrei­bun­gen mehr. Das orga­ni­sa­to­ri­sche Selbst, das der Mana­ger für sei­ne wah­re Iden­ti­tät hielt, erweist sich als das, was es immer war: ein Resul­tat des Impres­si­on Manage­ment, abhän­gig von einer Büh­ne, die ihm nicht gehörte.

Die­se Erfah­rung ist beson­ders schmerz­haft für jene, die an der Spit­ze der Wirt­schafts­eli­te stan­den. Denn sie haben am meis­ten in die Illu­si­on ihrer per­sön­li­chen Grö­ße inves­tiert. Sie haben Jah­re, oft Jahr­zehn­te damit ver­bracht, ihre Iden­ti­tät mit ihrer orga­ni­sa­to­ri­schen Rol­le zu ver­flech­ten, ohne je die nöti­ge Rol­len­di­stanz zu ent­wi­ckeln. Goff­man beschreibt Rol­len­di­stanz als die Fähig­keit, sich von dem eige­nen Ver­hal­ten zu distan­zie­ren, die Rol­le als Rol­le zu erken­nen und nicht mit dem Selbst zu verwechseln.

Genau die­se Distanz fehlt vie­len Mana­gern. Sie iden­ti­fi­zie­ren sich voll­stän­dig mit ihrer Rol­le, hal­ten die Mas­ke für ihr Gesicht. Der Ver­lust die­ser Rol­le ist daher nicht nur ein beruf­li­cher Rück­schritt, son­dern eine exis­ten­zi­el­le Kri­se. Wer bin ich, wenn ich nicht mehr CEO bin? Was bedeu­te ich, wenn nie­mand mehr mei­ne Ent­schei­dun­gen braucht? Was bleibt vom Dar­stel­ler, wenn die Büh­ne verschwindet?

Die ver­lo­re­ne Hinterbühne

Ein wei­te­res Pro­blem ver­schärft die­se Kri­se: Vie­le Wirt­schafts­füh­rer haben ihre Hin­ter­büh­ne ver­nach­läs­sigt oder ganz auf­ge­ge­ben. Goff­man unter­schei­det zwi­schen Vor­der­büh­ne – dem öffent­li­chen Raum der Selbst­dar­stel­lung – und Hin­ter­büh­ne, dem pri­va­ten Raum, wo man die Mas­ke able­gen und man selbst sein kann. Doch wer Jahr­zehn­te lang auf der Vor­der­büh­ne der Orga­ni­sa­ti­on agiert hat, fin­det oft kei­ne trag­fä­hi­ge Hin­ter­büh­ne mehr vor.

Das „Ster­be­haus” der Deut­schen Bank zeigt dies in aller Deut­lich­keit: Die ehe­ma­li­gen Vor­stän­de zie­hen sich nicht auf eine pri­va­te Hin­ter­büh­ne zurück, son­dern ver­har­ren in einem Zwi­schen­reich – weder auf der gro­ßen Büh­ne noch wirk­lich dahin­ter. Sie klam­mern sich an Res­te ihrer frü­he­ren Rol­le, an das Gefühl, noch dazu­zu­ge­hö­ren, auch wenn die Orga­ni­sa­ti­on sie längst aus­ran­giert hat. Gut nach­voll­zieh­bar, dass nicht jeder mit die­ser neu­en Situa­ti­on fer­tig wird und dem Leben in einer Schein­welt den Vor­zug gibt.

Die moder­ne Indus­trie­ge­sell­schaft bie­tet für die­se ent­wur­zel­ten Ehe­ma­li­gen nur noch Neben­rol­len an. Sym­bo­li­sche Ehren­äm­ter, gele­gent­li­che Auf­trit­te bei Jubi­lä­en, viel­leicht ein Bera­tungs­man­dat ohne wirk­li­chen Ein­fluss. Die gesell­schaft­li­che Rele­vanz, die einst selbst­ver­ständ­lich schien, ist dahin. Nie­mand inter­es­siert sich für ihre Memoi­ren; Wohl­tä­tig­keits­ge­sell­schaf­ten ver­lan­gen nach einem Mann, der noch mit bei­den Bei­nen im Wirt­schafts­le­ben steht. Und so geschieht etwas Para­do­xes: Wäh­rend die Per­son selbst noch lebt, beginnt ihre sozia­le Bedeu­tung bereits zu sterben.

Sei­ne Mei­nun­gen, die ges­tern noch als visio­när gal­ten, erschei­nen heu­te als Relik­te ver­gan­ge­ner Zei­ten. Die Welt dreht sich wei­ter, nur eben ohne ihn. Nur in der Kir­che kann er noch eine öffent­li­che Auf­ga­be erfül­len. Erst der phy­si­sche Tod scheint die­se Ord­nung wie­der­her­zu­stel­len. Im Nach­ruf wer­den die Ver­diens­te noch ein­mal auf­ge­zählt, die Erfol­ge gewür­digt, die Bedeu­tung betont. Erst am Tag nach sei­nem Able­ben wird sein Name wie­der in den Zei­tun­gen ste­hen. Für einen kur­zen Moment kehrt die Aner­ken­nung zurück – aller­dings nun end­gül­tig von der leben­di­gen Per­son getrennt.

Die Orga­ni­sa­ti­on als unsterb­li­che Bühne

Doch es gibt eine tie­fe­re, noch grund­le­gen­de­re Umkeh­rung in die­sem Ver­hält­nis zwi­schen Mensch und Insti­tu­ti­on. Wäh­rend der ein­zel­ne Mensch ver­geht, lebt die Orga­ni­sa­ti­on wei­ter. Und je län­ger sie exis­tiert, des­to mehr eman­zi­piert sie sich von ihren mensch­li­chen Schöp­fern und Len­kern – und wird zu einer Meta-Büh­ne mit eige­nen Inszenierungslogiken.

Vie­le jun­ge Unter­neh­men sind noch das, was Emer­son als den „ver­län­ger­ten Arm eines Men­schen” bezeich­ne­te. Der Grün­der prägt sie voll­stän­dig, sei­ne Visi­on bestimmt ihre Rich­tung, sei­ne Per­sön­lich­keit durch­dringt jede Ent­schei­dung. Ste­ve Jobs und Apple, Jeff Bezos und Ama­zon, Elon Musk und Tes­la – in sol­chen Kon­stel­la­tio­nen scheint die Orga­ni­sa­ti­on tat­säch­lich eine Erwei­te­rung der Per­son zu sein. Der Schat­ten des Grün­ders ist all­ge­gen­wär­tig, sein Wil­le wird zur Unter­neh­mens­kul­tur, sei­ne Ideen wer­den zu Produkten.

In Goff­mans Spra­che: Hier ist der Grün­der noch Regis­seur, Haupt­dar­stel­ler und Autor zugleich. Die Büh­ne gehört ihm, er gestal­tet die Insze­nie­rung, er bestimmt die Regeln der Per­for­mance. Die Orga­ni­sa­ti­on ist sei­ne Bühne.

Aber die­se Pha­se ist vor­über­ge­hend. Du Pont, eines der ältes­ten gro­ßen Indus­trie­un­ter­neh­men Ame­ri­kas, hat zahl­rei­che Prä­si­den­ten erlebt. Sein Grün­der ist seit mehr als einem Jahr­hun­dert tot. Was bedeu­tet das für die Natur die­ser Orga­ni­sa­ti­on? Sie ist längst nicht mehr der ver­län­ger­te Arm eines ein­zel­nen Men­schen. Sie ist die Syn­the­se vie­ler Kon­junk­tu­ren, vie­ler Jah­re, einer lan­gen Rei­he von Per­sön­lich­kei­ten. Sie ist zu etwas gewor­den, das grö­ßer ist als jeder ein­zel­ne Mensch, der je an ihrer Spit­ze stand.

Die­se Trans­for­ma­ti­on ist fun­da­men­tal – auch für die dra­ma­tur­gi­sche Struk­tur. Die Büh­ne gehört nie­man­dem mehr per­sön­lich. Sie hat ihre eige­nen Regeln ent­wi­ckelt, ihre eige­nen Insze­nie­rungs­for­men, ihre eige­nen Erwar­tun­gen an die Dar­stel­ler. Der neue CEO betritt eine Büh­ne, die längst exis­tiert, mit einem Dreh­buch, das vor ihm geschrie­ben wur­de, und einem Publi­kum, das bestimm­te Per­for­man­ces erwar­tet. Er denkt, er spie­le sei­ne Rol­le. Tat­säch­lich wird er von der Rol­le gespielt.

Eine Orga­ni­sa­ti­on, die Gene­ra­tio­nen über­dau­ert, ent­wi­ckelt eine eige­ne Logik, eine eige­ne Iden­ti­tät, eine eige­ne Form der Kon­ti­nui­tät. Sie wird zu einem kol­lek­ti­ven Gedächt­nis, zu einer Insti­tu­ti­on im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes – zu etwas, das über die Sterb­lich­keit des Ein­zel­nen hin­aus­reicht. Die Geschich­te von Du Pont ist nicht die Geschich­te einer Gene­ra­ti­on oder eines Zeit­ab­schnitts, son­dern reicht fast bis zu den Anfän­gen der USA als Nati­on zurück. Sie umfasst Krie­ge und Frie­dens­zei­ten, Boom­pha­sen und Kri­sen, tech­no­lo­gi­sche Revo­lu­tio­nen und gesell­schaft­li­che Umbrüche.
Die dop­pel­te Performance

Hier wird die Ana­ly­se noch kom­ple­xer: Es gibt in der moder­nen Indus­trie­ge­sell­schaft eine dop­pel­te Performance:

Ers­tens: Die indi­vi­du­el­le Per­for­mance. Der Mana­ger insze­niert sich auf der Vor­der­büh­ne der Orga­ni­sa­ti­on. Er nutzt die Requi­si­ten der Macht, um eine bestimm­te Per­so­na zu kre­ieren. Er glaubt, er kon­trol­lie­re sei­ne Selbst­dar­stel­lung, er mana­ge sei­ne Impression.

Zwei­tens: Die orga­ni­sa­to­ri­sche Per­for­mance. Die Orga­ni­sa­ti­on selbst führt eine Per­for­mance auf – gegen­über Märk­ten, Öffent­lich­keit, Stake­hol­dern. Der Mana­ger ist dabei nur eine Requi­si­te, ein Ele­ment der grö­ße­ren Insze­nie­rung. Die Orga­ni­sa­ti­on benutzt ihn, um sich selbst darzustellen.

Was für eine Orga­ni­sa­ti­on bedeu­tet das? Sie wird zu einer über­in­di­vi­du­el­len Enti­tät, deren Wesen nicht mehr in den Hän­den eines Ein­zel­nen liegt, son­dern in der Akku­mu­la­ti­on unzäh­li­ger Ent­schei­dun­gen, Tra­di­tio­nen, Struk­tu­ren und Kul­tu­ren. Eine ein­zel­ne Sai­son, ein bestimm­tes Jahr, ein ein­zel­ner begab­ter Mensch mögen Spu­ren hin­ter­las­sen – aber sie for­men nicht mehr das Gesamt­bild. Das Fir­men­bild wird zur Syn­the­se, zu einem kom­ple­xen Gebil­de, das sich der voll­stän­di­gen Kon­trol­le durch einen ein­zel­nen Men­schen entzieht.

Die Orga­ni­sa­ti­on wird zur unsterb­li­chen Büh­ne: Sie über­dau­ert ihre ein­zel­nen Dar­stel­ler, ent­wi­ckelt eige­ne Insze­nie­rungs­lo­gi­ken und formt die Rol­len, die auf ihr gespielt wer­den kön­nen. Der ein­zel­ne Mensch ist nur noch ein aus­tausch­ba­rer Akteur in einem lan­ge lau­fen­den Stück. Wir neh­men in ver­schie­de­nen Situa­tio­nen unter­schied­li­che Rol­len ein und insze­nie­ren unser Selbst bewusst – das ist kon­sti­tu­tiv für sozia­les Leben. Das Pro­blem in der moder­nen Indus­trie­ge­sell­schaft ist die Asym­me­trie der Inszenierungsmacht.

Die Asym­me­trie der Vergänglichkeit

Was beim Aus­schei­den geschieht, ist die Ent­hül­lung die­ser dop­pel­ten Struk­tur. Der Mana­ger ver­liert nicht nur sei­ne Rol­le – er erkennt, dass er selbst Teil einer grö­ße­ren Insze­nie­rung war, in der er nur eine aus­tausch­ba­re Kom­po­nen­te dar­stell­te. Die Mas­ke, die er trug und für sein Gesicht hielt, wird ihm ent­ris­sen. Dar­un­ter fin­det sich oft erschre­ckend wenig.

Hier offen­bart sich die eigent­li­che Iro­nie: Wäh­rend der ein­zel­ne Mana­ger sei­ne Iden­ti­tät aus der Orga­ni­sa­ti­on bezieht und beim Aus­schei­den sei­ne Bedeu­tung ver­liert, ent­wi­ckelt die Orga­ni­sa­ti­on selbst eine Iden­ti­tät, die unab­hän­gig von jedem ein­zel­nen Men­schen exis­tiert. Die Orga­ni­sa­ti­on über­lebt ihre Schöp­fer, ihre Len­ker, ihre Kri­ti­ker. Sie wird zu einem selbst­er­hal­ten­den Sys­tem, das Men­schen nutzt, formt und schließ­lich ersetzt – wäh­rend sie selbst weiterbesteht.

Dies führt zu einer dop­pel­ten Ent­frem­dung: Ers­tens ent­frem­det sich der Mensch von sich selbst, indem er sei­ne Iden­ti­tät aus sei­ner orga­ni­sa­to­ri­schen Rol­le bezieht und beim Ver­lust die­ser Rol­le sei­ne sozia­le Exis­tenz ver­liert. Zwei­tens ent­frem­det sich die Orga­ni­sa­ti­on von ihren mensch­li­chen Ursprün­gen, indem sie eine Eigen­dy­na­mik ent­wi­ckelt, die über die Inten­tio­nen ein­zel­ner Per­so­nen hinausgeht.

Die orga­ni­sier­te Per­for­mance des Selbst

Die­se Beob­ach­tung ist mehr als nur eine nüch­ter­ne Beschrei­bung sozia­ler Mecha­nis­men. Sie ist eine fun­da­men­ta­le Kri­tik an der Art und Wei­se, wie unse­re Gesell­schaft Wert und Bedeu­tung zuweist. Sie zeigt, wie ober­fläch­lich und ver­gäng­lich wirt­schaft­li­che Macht ist, wie sehr sie von äuße­ren Struk­tu­ren abhängt und wie wenig sie mit dem inne­ren Wert eines Men­schen zu tun hat.

Die Indus­trie­ge­sell­schaft hat aus Goff­mans Ein­sich­ten ein Sys­tem gemacht: Orga­ni­sa­tio­nen sind pro­fes­sio­na­li­sier­te Büh­nen, die Men­schen ermög­li­chen, Rol­len zu spie­len, die grö­ßer sind als sie selbst. Sie schafft Iden­ti­tä­ten, die sie eben­so schnell wie­der ver­nich­tet. Sie ver­leiht Sta­tus, den sie jeder­zeit zurück­for­dern kann. Sie pro­du­ziert Bedeu­tung, die sich als blo­ße Illu­si­on erweist, sobald die insti­tu­tio­nel­le Stüt­ze – die Büh­ne, die Requi­si­ten, das Publi­kum – wegbricht.

Der Preis ist hoch: Wer zu lan­ge auf einer frem­den Büh­ne spielt, ver­gisst, wer er ohne die Büh­ne ist. Wer sei­ne Rol­le mit sich selbst ver­wech­selt, ver­liert mit der Rol­le auch sein Selbst. Wer kei­ne Rol­len­di­stanz ent­wi­ckelt, wird von der Rol­le verschlungen.

Die unbe­que­me Wahrheit

Was bleibt von die­ser Ana­ly­se? Eine ernüch­tern­de Ein­sicht in die Asym­me­trie zwi­schen mensch­li­cher und orga­ni­sa­to­ri­scher Exis­tenz. Der ein­zel­ne Mensch, so mäch­tig er in sei­ner akti­ven Zeit auch erschei­nen mag, ist letzt­lich ver­gäng­lich. Sei­ne Bedeu­tung ist gelie­hen, sein Sta­tus tem­po­rär, sei­ne Iden­ti­tät fra­gil. Er ist ein Dar­stel­ler auf einer Büh­ne, die ihm nicht gehört, in einem Stück, das ohne ihn weiterläuft.

Die Orga­ni­sa­ti­on hin­ge­gen ent­wi­ckelt eine Form der Unsterb­lich­keit. Sie über­dau­ert Gene­ra­tio­nen, akku­mu­liert Erfah­run­gen, ent­wi­ckelt Struk­tu­ren, die weit über die Lebens­zeit ihrer ein­zel­nen Mit­glie­der hin­aus­rei­chen. Sie wird zur Meta-Büh­ne mit insti­tu­tio­nel­lem Gedächt­nis, auf der immer neue Dar­stel­ler kom­men und gehen.

Die­se Asym­me­trie ist das eigent­li­che Fun­da­ment der moder­nen Indus­trie­ge­sell­schaft. Sie erklärt, war­um Macht so ungleich ver­teilt ist – nicht zwi­schen ein­zel­nen Men­schen, son­dern zwi­schen Men­schen und den Insti­tu­tio­nen, die sie geschaf­fen haben und die sie nun beherr­schen. Sie zeigt, war­um Ver­än­de­rung so schwie­rig ist: Orga­ni­sa­tio­nen haben ein insti­tu­tio­nel­les Gedächt­nis, das län­ger reicht als jeder Reform­wil­le. Sie macht deut­lich, war­um Iden­ti­tät so zer­brech­lich gewor­den ist: Weil sie nicht mehr in sta­bi­len mensch­li­chen Bezie­hun­gen oder Tra­di­tio­nen ver­an­kert ist, son­dern in Orga­ni­sa­tio­nen, die Men­schen nach Belie­ben auf­neh­men und wie­der ausstoßen.

Die Fra­ge „Wer bin ich?” wird in die­ser Gesell­schaft zuneh­mend beant­wor­tet mit: „Ich bin mei­ne gegen­wär­ti­ge orga­ni­sa­to­ri­sche Rol­le.” Und die Fra­ge „Was ist die Orga­ni­sa­ti­on?” wird beant­wor­tet mit: „Eine unsterb­li­che Büh­ne, die Gene­ra­tio­nen über­dau­ert, unab­hän­gig von jedem Einzelnen.”

Der unfehl­ba­re Test – was bleibt, wenn man die Orga­ni­sa­ti­on weg­nimmt – ist in Goff­mans Spra­che die Fra­ge: Was bleibt vom Dar­stel­ler, wenn die Büh­ne, die Requi­si­ten, das Publi­kum und das Dreh­buch ver­schwin­den? Die erschre­cken­de Ant­wort ist oft: ein des­ori­en­tier­ter Schau­spie­ler, der sei­ne Rol­le mit sich selbst ver­wech­selt hat­te und nun fest­stellt, dass er ohne die Büh­ne kei­ne Iden­ti­tät mehr hat.

Der Mensch schrumpft zur Epi­so­de, die Orga­ni­sa­ti­on wächst zur Insti­tu­ti­on. Das ist die unbe­que­me Wahr­heit der moder­nen Indus­trie­ge­sell­schaft – eine Wahr­heit, die sich im Leben jedes Wirt­schafts­füh­rers mani­fes­tiert, der aus sei­nem Amt schei­det und erken­nen muss, dass er ersetz­bar war, dass sei­ne Macht nie sei­ne eige­ne war, dass sei­ne Per­for­mance auf einer Büh­ne statt­fand, die ihm nie gehör­te. Und es ist eine Wahr­heit, die sich in jeder hun­dert­jäh­ri­gen Orga­ni­sa­ti­on zeigt, die längst auf­ge­hört hat, der ver­län­ger­te Arm eines Men­schen zu sein, und statt­des­sen zu einem eigen­stän­di­gen gesell­schaft­li­chen Akteur gewor­den ist – mäch­ti­ger, lang­le­bi­ger und letzt­lich unkon­trol­lier­ba­rer als jeder Mensch es je sein könnte.


Quel­len:

Das “Ster­be­haus” der Deut­schen Bank

„Um die Zukunft der Indus­trie – Erkennt­nis­se und For­de­run­gen eines füh­ren­den Wirt­schaft­lers“ von C.H. Greenewalt

Erving Goff­man – Wir alle spie­len Thea­ter (1956)