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Alfred Herr­hau­sens Refle­xio­nen über die Not­wen­dig­keit von Eli­ten wir­ken heu­te wie eine Mah­nung aus einer ande­ren Zeit. Der ermor­de­te Deut­sche-Bank-Chef stell­te 1982 Fra­gen zur Legi­ti­ma­ti­on gesell­schaft­li­cher Füh­rungs­schich­ten, die mehr als vier Jahr­zehn­te spä­ter unbe­ant­wor­tet geblie­ben sind – wäh­rend sich die deut­schen Funk­ti­ons­eli­ten in einer Kri­se der Hand­lungs­fä­hig­keit befinden.


Wenn Alfred Herr­hau­sen 1982 die Fra­ge „Brau­chen wir Eli­ten?”[1]in: Alfred Herr­hau­sen. Denken_​Ordnen_​Gestalten auf­wirft, dann nicht als rhe­to­ri­sches Manö­ver zur Selbst­le­gi­ti­ma­ti­on, son­dern als ernst­haf­te Aus­ein­an­der­set­zung mit einer funk­tio­na­len Para­do­xie moder­ner Gesell­schaf­ten. Der Vor­stands­spre­cher der Deut­schen Bank ope­rier­te in einem insti­tu­tio­nel­len Kon­text, der Éli­te nicht als Pri­vi­leg, son­dern als Steue­rungs­ka­pa­zi­tät ver­stand – eine Per­spek­ti­ve, die in der heu­ti­gen deut­schen Debat­te nahe­zu ver­schwun­den ist.

Herr­hau­sens Aus­gangs­punkt war die Beob­ach­tung gesell­schaft­li­cher Kom­ple­xi­tät und die dar­aus resul­tie­ren­de Fra­ge nach Ori­en­tie­rungs­leis­tung. Eli­ten erschei­nen in die­ser Les­art nicht als sozia­le Schicht mit Selbst­zweck, son­dern als funk­tio­na­le Not­wen­dig­keit in Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­sen: als Takt­ge­ber, Ori­en­tie­rungs­ge­ber oder eben auch als Brem­ser. Die ent­schei­den­de Fra­ge lau­te­te nicht, ob Eli­ten exis­tie­ren – das ist eine sozio­lo­gi­sche Tri­via­li­tät –, son­dern ob sie ihre Funk­ti­on erfül­len kön­nen oder zu blo­ßen Repro­duk­ti­ons­me­cha­nis­men sozia­ler Pri­vi­le­gi­en degenerieren.

„Die Éli­te” gibt es ohne­hin nicht. Die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten unter­schei­den zwi­schen Werte‑, Leistungs‑, Funktions‑, Posi­ti­ons- und Macht­eli­ten – Kate­go­rien mit durch­läs­si­gen Gren­zen, die sich in Poli­tik, Kul­tur, Sport, Wis­sen­schaft und Wirt­schaft mani­fes­tie­ren. Die Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin Ros­wi­ta Königs­wie­ser prä­zi­siert den Begriff für die Wirt­schafts­eli­te: „Das sind Men­schen in Schlüs­sel­po­si­tio­nen, die eine beson­de­re Durch­set­zungs­fä­hig­keit aus­zeich­net, die lei­den­schaft­lich gestal­ten und steu­ern wol­len. Sie gehö­ren zur Macht­eli­te. Um zur Éli­te im ursprüng­li­chen Sinn zu zäh­len, gehört aber noch mehr: etwa in der Lage zu sein, über den Tel­ler­rand hin­aus zu gucken. Das sind Den­ker, die das Unter­neh­men als Teil der Gesell­schaft betrach­ten. Eben nicht aus­schließ­lich als Geld­ma­schi­ne, son­dern auch als insti­tu­tio­nel­le Einrichtung.”

Die­se Defi­ni­ti­on trifft prä­zi­se den Kern von Herr­hau­sens Refle­xi­on. Éli­te ist nicht gleich­zu­set­zen mit Pro­mi­nenz, Reich­tum oder gesell­schaft­li­cher Sicht­bar­keit – Kri­te­ri­en, die in der popu­lä­ren Wahr­neh­mung domi­nie­ren, wenn Film­stars und Mode­za­ren zu den „obe­ren Zehn­tau­send” gezählt wer­den. Der sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Eli­ten­be­griff meint etwas grund­sätz­lich ande­res: die Fähig­keit zur gesell­schaft­li­chen Gestal­tung aus Posi­tio­nen insti­tu­tio­nel­ler Macht her­aus. Die Fra­ge ist nicht, wer zur Éli­te gehört, son­dern ob die­se Posi­tio­nen noch mit der Kom­pe­tenz besetzt sind, kom­ple­xe Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se zu steuern.

Die deut­sche Gegen­wart bie­tet auf die­se Fra­ge eine ernüch­tern­de Ant­wort. Die Rekru­tie­rungs­me­cha­nis­men der Funk­ti­ons­eli­ten haben sich von Leis­tungs- zu Kon­for­mi­täts­kri­te­ri­en ver­scho­ben. Was Bour­dieu als „Repro­duk­ti­on sozia­ler Ord­nung” beschrieb, mani­fes­tiert sich in Deutsch­land nicht pri­mär über Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit, son­dern über die Inter­na­li­sie­rung insti­tu­tio­nel­ler Codes. Die Füh­rungs­schich­ten in Wirt­schaft, Poli­tik und Ver­wal­tung rekru­tie­ren sich zuneh­mend aus einem Milieu, das Netz­werk­fä­hig­keit über Pro­blem­lö­sungs­kom­pe­tenz stellt und pro­zes­sua­le Exper­ti­se über stra­te­gi­sche Vision.

Das Ergeb­nis ist eine Éli­te, die Herr­hau­sens Kri­te­ri­en nicht mehr erfüllt – und auch Königs­wie­sers Defi­ni­ti­on wider­spricht. Sie wirkt weder als Takt­ge­ber noch als Ori­en­tie­rungs­ge­ber. Sie betrach­tet Unter­neh­men nicht als Teil der Gesell­schaft, son­dern ope­riert in der Logik kurz­fris­ti­ger Ren­ta­bi­li­täts­kenn­zah­len. Die Fähig­keit, „über den Tel­ler­rand hin­aus zu gucken”, wur­de durch die Beherr­schung von Com­pli­ance-Pro­zes­sen ersetzt. Die „lei­den­schaft­li­che” Gestal­tung ist der pro­fes­sio­nel­len Ver­wal­tung gewi­chen. Die Funk­ti­ons­eli­ten haben ihre zen­tra­le Auf­ga­be auf­ge­ge­ben: die Gestal­tung struk­tu­rel­ler Transformationsprozesse.

Herr­hau­sen reflek­tier­te noch über die Legi­ti­ma­ti­ons­fra­ge – ob Eli­ten demo­kra­tisch legi­ti­miert sein müs­sen oder durch Leis­tung und Ver­ant­wor­tung. Die heu­ti­ge Situa­ti­on zeigt eine per­ver­se Umkeh­rung: Deut­sche Funk­ti­ons­eli­ten bean­spru­chen demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on durch for­ma­le Posi­tio­nen, ohne die damit ver­bun­de­ne Ver­ant­wor­tung zu tra­gen. Das Schei­tern wird exter­na­li­siert, die Kon­se­quen­zen wer­den dele­giert, die insti­tu­tio­nel­le Posi­ti­on bleibt unbe­rührt. Bun­des­bank-Prä­si­den­ten war­nen vor Risi­ken, die sie selbst mit­ver­schul­det haben. Digi­tal­mi­nis­ter prä­sen­tie­ren Stra­te­gien für Trans­for­ma­tio­nen, die sie nicht ver­ste­hen. Kon­zern­vor­stän­de ver­kün­den Inno­va­ti­ons­pro­gram­me in Struk­tu­ren, die sys­te­ma­tisch Inno­va­ti­on verhindern.

Was Herr­hau­sen als „Eli­ten­bil­dung in gesell­schaft­li­chen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­sen” beschrieb, hat sich in Deutsch­land in sein Gegen­teil ver­kehrt. Die Rekru­tie­rungs­me­cha­nis­men selek­tie­ren nicht für Trans­for­ma­ti­on, son­dern für Bestands­si­che­rung. Die Kar­rie­re­we­ge in Kon­zer­ne, Minis­te­ri­en und Ver­wal­tun­gen beloh­nen nicht stra­te­gi­sches Den­ken, son­dern insti­tu­tio­nel­le Anpas­sung. Die Auf­stiegs­kri­te­ri­en pri­vi­le­gie­ren nicht die Fähig­keit zum Bruch mit bestehen­den Mus­tern, son­dern die Beherr­schung eta­blier­ter Codes.

Dies ist kei­ne mora­li­sche Kri­tik an indi­vi­du­el­len Füh­rungs­per­so­nen, son­dern eine struk­tu­rel­le Dia­gno­se. Max Weber hät­te von der Ver­selbst­stän­di­gung büro­kra­ti­scher Appa­ra­te gespro­chen, von der Eigen­ge­setz­lich­keit ratio­na­ler Ord­nun­gen, die sich gegen ihre ursprüng­li­chen Zwe­cke keh­ren. Niklas Luh­mann wür­de das Phä­no­men prä­zi­ser fas­sen: Die Eli­ten­in­sti­tu­tio­nen – Uni­ver­si­tä­ten, Unter­neh­men, Ver­wal­tun­gen – ope­rie­ren als auto­poie­ti­sche Sys­te­me, die Umwelt­an­for­de­run­gen nur noch als inter­ne Irri­ta­tio­nen ver­ar­bei­ten, ohne ihre ope­ra­ti­ve Geschlos­sen­heit auf­zu­ge­ben. Die Repro­duk­ti­on der Funk­ti­ons­eli­ten folgt der Eigen­lo­gik orga­ni­sa­tio­na­ler Selbst­er­hal­tung, nicht mehr der Lösung gesell­schaft­li­cher Pro­ble­me. Die struk­tu­rel­le Kopp­lung zwi­schen Orga­ni­sa­tio­nen und ihrer gesell­schaft­li­chen Umwelt ist so lose gewor­den, dass exter­ne Kom­ple­xi­tät nur noch im Modus orga­ni­sa­ti­ons­in­ter­ner Ratio­na­li­tät pro­zes­siert wird.

Es kann kei­nen Zwei­fel dar­über geben, dass die Leis­tungs- und Kon­kur­renz­fä­hig­keit unse­rer Volks­wirt­schaft in ent­schei­den­dem Aus­maß von der Intel­li­genz und dem Kön­nen derer abhän­gen, die in ihr arbei­ten. Das Feld für Tüch­ti­ge ist nicht klei­ner, es ist fort­wäh­rend grö­ßer gewor­den. .. Hier stellt sich die Fra­ge nach der Fähig­keit des poli­ti­schen Sys­tems, Pro­ble­me zu ver­ar­bei­ten. Es ist zugleich die Fra­ge nach der demo­kra­tisch-poli­ti­schen Kul­tur der Gesell­schaft, der gera­de in Zei­ten, in denen der Wohl­stand nicht mehr steigt, erhöh­te Bedeu­tung zukommt. Je grö­ßer die geis­tig-mora­li­sche Poten­zi­al eines Lan­des, um so weni­ger dürf­te es den in sol­chen Zei­ten laten­ten Ver­su­chun­gen durch ver­un­si­chern­de Irra­tio­na­lis­ten der ver­schie­dens­ten Art anheim­fal­len (Alfred Herrhausen) .

Die Kon­se­quenz ist eine Füh­rungs­schicht ohne Füh­rungs­fä­hig­keit. Die deut­schen Funk­ti­ons­eli­ten ver­wal­ten ihre Posi­tio­nen, ohne die Pro­zes­se zu gestal­ten, für die sie ver­ant­wort­lich sind. Sie kom­mu­ni­zie­ren Trans­for­ma­ti­on, ohne sie zu ver­ste­hen. Sie ver­kün­den Stra­te­gien, ohne die insti­tu­tio­nel­len Vor­aus­set­zun­gen für deren Umset­zung zu schaf­fen. Sie bean­spru­chen Ver­ant­wor­tung in Sonn­tags­re­den, wäh­rend sie im ope­ra­ti­ven Geschäft sys­te­ma­tisch Rechen­schaft vermeiden.

Herr­hau­sens Fra­ge „Brau­chen wir Eli­ten?” lässt sich heu­te prä­zi­ser for­mu­lie­ren: Deutsch­land braucht nicht mehr Eli­ten, son­dern funk­ti­ons­fä­hi­ge. Die Alter­na­ti­ve zu dys­funk­tio­na­len Eli­ten ist nicht deren Abschaf­fung – das wäre orga­ni­sa­ti­ons­theo­re­ti­scher Unsinn –, son­dern deren radi­ka­le Neu­kon­sti­tu­ie­rung. Solan­ge die Rekru­tie­rungs- und Auf­stiegs­me­cha­nis­men Kon­for­mi­tät über Kom­pe­tenz stel­len, wer­den die Funk­ti­ons­eli­ten ihre zen­tra­le Auf­ga­be ver­feh­len: die Steue­rung gesell­schaft­li­cher Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se in Zei­ten struk­tu­rel­ler Unsicherheit.

Die Iro­nie der Geschich­te: Herr­hau­sen stell­te die­se Fra­gen als Insi­der der Macht, als jemand, der über die Res­sour­cen ver­füg­te, um insti­tu­tio­nel­len Wan­del zu gestal­ten. Sei­ne Ermor­dung 1989 mar­kiert sym­bo­lisch das Ende einer Ära, in der deut­sche Wirt­schafts­füh­rer noch über gesell­schafts­po­li­ti­sche Ver­ant­wor­tung reflek­tier­ten. Die heu­ti­gen Nach­fol­ger ver­wal­ten Quar­tals­er­geb­nis­se und kom­mu­ni­zie­ren Nach­hal­tig­keits­stra­te­gien. Die Eli­ten­fra­ge ist von einer funk­tio­na­len zu einer per­for­ma­ti­ven gewor­den – nicht mehr die Leis­tungs­fä­hig­keit zählt, son­dern die Kom­mu­ni­ka­ti­on darüber.


Quel­len:

Wis­sen­schafts­för­de­rung aus dem Geist der Gesell­schafts­po­li­tik. Alfred Herr­hau­sen und der Stif­ter­ver­band für die Deut­sche Wissenschaft

Zum Begriff „Éli­te“

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1 in: Alfred Herr­hau­sen. Denken_Ordnen_Gestalten