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Von der Loch­kar­ten­tech­nik bis zur gene­ra­ti­ven KI – die Geschich­te der Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung zeigt ein para­do­xes Mus­ter: Jede tech­ni­sche Inno­va­ti­on zur effi­zi­en­ten Daten­ver­ar­bei­tung führt zur expo­nen­ti­el­len Ver­meh­rung von Infor­ma­ti­on. Was als prak­ti­sche Lösung beginnt, wird zur Quel­le neu­er Herausforderungen. 


Die Geburt der moder­nen Informationsflut

Als in den frü­hen Jahr­zehn­ten des 20. Jahr­hun­derts die Loch­kar­ten­tech­nik in die Büros ein­zog, schien das Ver­spre­chen ein­deu­tig: effi­zi­en­te­re Ver­wal­tung, prä­zi­se­re Abrech­nun­gen, ratio­na­li­sier­te Abläu­fe. Doch was tat­säch­lich geschah, war etwas ande­res – und fol­gen­rei­cher. Die Autoren der Büro­au­to­ma­ti­sie­rung räum­ten bereits damals ein, dass die Über­nah­me vie­ler zusätz­li­cher Aus­wer­tun­gen nur des­halb erfolg­te, weil die neue Tech­nik freie Kapa­zi­tä­ten bot.

Ein Bei­spiel aus einem deut­schen Hüt­ten­werk illus­triert die­ses Phä­no­men ein­drück­lich: Neben den arbeits­in­ten­si­ven Spit­zen der Lohn­ab­rech­nung über­nahm die Loch­kar­ten­ab­tei­lung als „Füll­ar­beit” die Ana­ly­se der Betriebs­kran­ken­kas­se. Was zunächst nur eine Beschäf­ti­gung für freie Rech­ner­ka­pa­zi­tä­ten war, ent­wi­ckel­te sich zu einer sys­te­ma­ti­schen Aus­wer­tung, die ihre Kri­te­ri­en von zwei auf zehn erwei­ter­te. Das Ergeb­nis: Die Erken­nung von Kos­ten­sen­kungs­po­ten­zia­len bei Ärz­ten und Kran­ken­häu­sern führ­te zur Sen­kung des Bei­trags­sat­zes. Die Loch­kar­ten­tech­nik hat­te ihr Ein­satz­feld von der rei­nen Finanz- und Per­so­nal­wirt­schaft auf Mate­ri­al­wirt­schaft, Ver­trieb und wei­te­re betrieb­li­che Funk­ti­ons­be­rei­che ausgedehnt.

Hier zeigt sich ein Grund­mus­ter, das bis heu­te gilt: Tech­ni­sche Kapa­zi­tä­ten für Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung ten­die­ren dazu, sekun­dä­re Ver­wen­dungs­zwe­cke zu sti­mu­lie­ren. Theo Pir­kers The­se, dass eine Maschi­ni­sie­rung von Infor­ma­tio­nen zu deren rapi­der Ver­meh­rung führt, fin­det in die­sem frü­hen Bei­spiel ihre ers­te empi­ri­sche Bestätigung.

Die Ver­flüs­si­gung beschleu­nigt sich

Das Inter­net­zeit­al­ter hat die­se Ent­wick­lung dra­ma­tisch beschleu­nigt. Die „Ver­flüs­si­gung der Infor­ma­ti­on” – der rei­bungs­lo­se welt­wei­te Aus­tausch von Daten und Datei­en – führ­te zu einer regel­rech­ten Infor­ma­ti­ons­ex­plo­si­on. Aus­wer­tun­gen und Ana­ly­sen nach völ­lig neu­en, bis­lang unvor­her­ge­se­he­nen Kri­te­ri­en wur­den nicht nur mög­lich, son­dern alltäglich.

Was als admi­nis­tra­ti­ve Unter­stüt­zung begann, erzeug­te kon­ti­nu­ier­lich neu­es Wis­sen für betrieb­li­che Steue­rung. Im Sin­ne von Schum­pe­ters Kon­zept der „neu­en Kom­bi­na­tio­nen” ent­stan­den aus rein tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten inno­va­ti­ve Geschäfts­mo­del­le und Erkennt­nis­me­tho­den. Die tra­di­tio­nel­len Infor­ma­ti­ons­gren­zen zwi­schen Funk­ti­ons­be­rei­chen began­nen zu zer­flie­ßen – zunächst intern in den Unter­neh­men, spä­ter global.

Schum­pe­ters Visi­on: Inno­va­ti­on durch Informationskombination

Joseph Schum­pe­ter erkann­te bereits früh, dass Inno­va­ti­on durch „neue Kom­bi­na­tio­nen” von Pro­duk­ti­ons­fak­to­ren ent­steht. Im digi­ta­len Kon­text steht die kom­bi­na­to­ri­sche Nut­zung unter­schied­lich gefil­ter­ter und ver­knüpf­ter Infor­ma­ti­on im Mit­tel­punkt die­ser Dyna­mik. Je ver­flüs­sig­ter und zugäng­li­cher Infor­ma­ti­on wird, des­to mehr Gele­gen­hei­ten erge­ben sich für neu­ar­ti­ge Kom­bi­na­tio­nen – bei Pro­duk­ten, Dienst­leis­tun­gen, Geschäfts­mo­del­len und gan­zen Branchen.

Die gewal­ti­ge Infor­ma­ti­ons­dy­na­mik führt zu dem, was Schum­pe­ter als „krea­ti­ve Zer­stö­rung” bezeich­ne­te: Alte Struk­tu­ren, die auf der blo­ßen Kon­trol­le und dem Besitz von Daten basie­ren, wer­den ver­drängt. Neue Akteu­re mit bes­se­ren Filter‑, Kom­bi­na­ti­ons- und Inno­va­ti­ons­tech­no­lo­gien ent­ste­hen. Unter­neh­men, die Fil­ter­me­cha­nis­men und bewuss­te Kon­tex­tua­li­sie­rung beherr­schen, kön­nen aus dem schein­ba­ren Daten­cha­os neue, effi­zi­en­te­re Wert­schöp­fungs­for­men ent­wi­ckeln – von der Platt­form­öko­no­mie über algo­rith­mi­sche Geschäfts­mo­del­le bis hin zu KI-getrie­be­nen Organisationen.

Die­se Ent­wick­lung führt zu einer bemer­kens­wer­ten Demo­kra­ti­sie­rung von Inno­va­ti­on. Die all­ge­mei­ne Zugäng­lich­keit von Infor­ma­ti­on und die Fähig­keit, rele­van­te Daten aus dem Daten­meer zu fil­tern, streu­en das Inno­va­ti­ons­po­ten­zi­al brei­ter: Nicht nur gro­ße Kon­zer­ne, auch klei­ne Akteu­re kön­nen von digi­ta­len Platt­for­men und KI-Tech­no­lo­gien pro­fi­tie­ren. Unter­neh­men, die Exfor­ma­ti­on und sinn­vol­les Daten­ma­nage­ment beherr­schen, wer­den agi­ler und kön­nen schnel­ler auf Markt­ver­än­de­run­gen reagie­ren. Sie nut­zen Infor­ma­ti­ons­flüs­se für geziel­te Inno­va­ti­ons­sprün­ge und bau­en Wett­be­werbs­vor­tei­le auf Basis von Infor­ma­ti­ons­vor­sprung und Ent­schei­dungs­fä­hig­keit auf.

KI und die expo­nen­ti­ell gestei­ger­te Verflüssigung

Mit der gene­ra­ti­ven Künst­li­chen Intel­li­genz erreicht die Ver­flüs­si­gung der Infor­ma­ti­on eine neue Dimen­si­on. Der Grad der Infor­ma­ti­ons­pro­duk­ti­on steigt expo­nen­ti­ell, neue Ana­ly­sen und Aus­wer­tun­gen wer­den in bis­lang unvor­stell­ba­rem Umfang mög­lich. KI-Sys­te­me kom­bi­nie­ren Daten, erken­nen Mus­ter und gene­rie­ren völ­lig neue Ein­sich­ten – oft unab­hän­gig von tra­di­tio­nel­len Fragestellungen.

Beson­ders deut­lich wird dies in den exak­ten Wis­sen­schaf­ten: In der Mate­ri­al­wis­sen­schaft ent­de­cken KI-Algo­rith­men neue Werk­stoff­kom­bi­na­tio­nen durch die Ana­ly­se von Mil­lio­nen von Mate­ri­al­ei­gen­schaf­ten, die mensch­li­che For­scher nie­mals sys­te­ma­tisch hät­ten ver­glei­chen kön­nen. In der Che­mie ermög­li­chen maschi­nel­le Lern­ver­fah­ren die Vor­her­sa­ge von Mole­kül­ver­hal­ten und Reak­ti­ons­we­gen, wäh­rend in der Phy­sik KI-Sys­te­me in Teil­chen­be­schleu­ni­ger-Daten Mus­ter iden­ti­fi­zie­ren, die zu neu­en theo­re­ti­schen Erkennt­nis­sen füh­ren. Die Medi­zin erlebt eine Revo­lu­ti­on durch KI-gestütz­te Dia­gno­se- und The­ra­pie­ent­wick­lung, bei der Algo­rith­men aus geno­mi­schen Daten, Bild­ge­bung und Pati­en­ten­ver­läu­fen Zusam­men­hän­ge ablei­ten, die das mensch­li­che Auge über­se­hen würde.

Doch genau hier liegt das Pro­blem: Infor­ma­tio­nen wer­den mitt­ler­wei­le häu­fig „der Mög­lich­kei­ten wegen” erho­ben, nicht aus ech­tem Erkennt­nis­in­ter­es­se oder prak­ti­schem Nut­zen. Die Schwel­le der Infor­ma­ti­ons­pro­duk­ti­on sinkt kon­ti­nu­ier­lich, wäh­rend die Schwel­le der Sinn­haf­tig­keit bestehen bleibt.

Das Resul­tat ist eine expo­nen­ti­el­le Ver­meh­rung von Daten, von denen ein Groß­teil nicht ver­wer­tet oder benö­tigt wird – ent­we­der weil die Aus­wer­tun­gen kei­nen Mehr­wert bie­ten oder weil die orga­ni­sa­to­ri­schen und tech­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen für eine sinn­vol­le Nut­zung fehlen.

Das Pro­blem der Datengravitation

Mit der Mas­se wächst die Träg­heit – die­ses phy­si­ka­li­sche Prin­zip gilt auch für Infor­ma­ti­on. Die soge­nann­te Daten­gra­vi­ta­ti­on beschreibt, dass gro­ße Daten­vo­lu­mi­na zuneh­mend „trä­ge” und unbe­weg­lich wer­den. Cloud-Migra­tio­nen wer­den tech­nisch und öko­no­misch immer schwie­ri­ger, die Gefahr des Anbie­ter-Lock-ins steigt. Unter­neh­men wer­den dar­auf ange­wie­sen, dau­er­haft beim glei­chen Cloud-Anbie­ter zu blei­ben, weil die Kos­ten und Risi­ken eines Wech­sels expo­nen­ti­ell wachsen.

Exfor­ma­ti­on: Die Kunst des bewuss­ten Weglassens

Die eigent­li­che Her­aus­for­de­rung der digi­ta­len Ära liegt nicht im end­lo­sen Sam­meln von Daten, son­dern im stra­te­gi­schen Weg­las­sen. Das Kon­zept der Exfor­ma­ti­on – die bewusst aus­ge­son­der­te, oft unsicht­ba­re Infor­ma­ti­on – wird zum Schlüs­sel für Infor­ma­ti­ons­kom­pe­tenz. Anders als bei rein tech­ni­scher Fil­te­rung geht es bei Exfor­ma­ti­on um die geis­ti­ge Arbeit: Durch kon­tex­tu­el­les und kul­tu­rel­les Vor­wis­sen wird ent­schie­den, wel­che Daten wirk­lich bedeu­tungs­tra­gend sind und wel­che dem Ver­ste­hen im Weg stehen.

Es gibt kei­ne ein­fa­che Kor­re­la­ti­on zwi­schen der Men­ge an Infor­ma­ti­on und Exfor­ma­ti­on. Nicht mehr Infor­ma­ti­on pro­du­ziert mehr Erkennt­nis, son­dern deren bewuss­te Reduk­ti­on und Ein­bet­tung in sinn­vol­le Zusam­men­hän­ge macht den ent­schei­den­den Unter­schied. Das mensch­li­che Bewusst­sein ver­wirft fort­lau­fend Mil­lio­nen von Sin­nes­ein­drü­cken und Daten, um über­haupt hand­lungs­fä­hig zu blei­ben – das Daten­ma­nage­ment der Zukunft muss sich stär­ker an die­sem Prin­zip orientieren.

Fazit: Zwi­schen Über­for­de­rung und Innovation

Die his­to­ri­sche Linie von der Loch­kar­ten­tech­nik zur gene­ra­ti­ven KI zeigt ein dia­lek­ti­sches Mus­ter: Jede Tech­no­lo­gie zur Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung erzeugt sowohl Chan­cen als auch Her­aus­for­de­run­gen, die weit über ihre ursprüng­li­chen Zie­le hin­aus­rei­chen. Was als Effi­zi­enz­stei­ge­rung beginnt, wird zur Quel­le expo­nen­ti­ell wach­sen­der Kom­ple­xi­tät – aber auch unge­kann­ter Innovationsmöglichkeiten.

Die Kunst der Exfor­ma­ti­on erweist sich dabei als Schlüs­sel für gesell­schaft­li­chen Fort­schritt im Schumpeter’schen Sin­ne. Die bewuss­te Fil­te­rung und Kom­bi­na­ti­on von Infor­ma­tio­nen legt den Grund­stein für neue Wert­schöp­fung, Dyna­mik und Inno­va­ti­on. Unter­neh­men und Gesell­schaf­ten, die die­se Kom­pe­tenz ent­wi­ckeln, kön­nen die Infor­ma­ti­ons­ver­flüs­si­gung von einer Bedro­hung in eine Chan­ce transformieren.

Die Her­aus­for­de­rung des 21. Jahr­hun­derts liegt nicht nur dar­in, nach­hal­ti­ge Fil­ter­me­cha­nis­men zu eta­blie­ren, son­dern auch die posi­ti­ven Poten­zia­le der Infor­ma­ti­ons­dy­na­mik zu nut­zen. Die Kunst des bewuss­ten Weg­las­sens wird zur Vor­aus­set­zung für die Kunst der krea­ti­ven Kom­bi­na­ti­on – für Unter­neh­men, die aus Daten­strö­men neue Geschäfts­mo­del­le ent­wi­ckeln, für Indi­vi­du­en, die ihre Auf­merk­sam­keit stra­te­gisch ein­set­zen, und für eine Gesell­schaft, die tech­no­lo­gi­sche Macht mit inno­va­ti­ver Weis­heit zu ver­bin­den lernt.


Quel­len:

Die Kunst des bewuss­ten Weglassens—Exformation in der digi­ta­len Ära

Ban­king: Im Sog der Datengravitation

Die ers­te Infor­ma­ti­ons­ex­plo­si­on. Die Rol­le der Loch­kar­ten­tech­nik bei der Büro­ra­tio­na­li­sie­rung in Deutsch­land 1910 bis 1939 (Richard Vahrenkamp)

Zuerst erschie­nen auf KI-Agen­ten