Von Ralf Keuper
Die Argumentation ist auf den ersten Blick plausibel: Die zunehmende Digitalisierung mündet zwangsläufig in einer Entmaterialisierung des Banking. Neues Gewicht bekommt diese These nicht zuletzt durch die noch schleppende Verbreitung digitaler Währungen. Physische Bestandteile, die bisher wie selbstverständlich mit dem Bankgeschäft assoziiert wurden, wie Banknoten, Geldautomaten, Filialen, Bürotürme usw. erscheinen vielen als ein Relikt der Vergangenheit.
In seinem lesenswerten Beitrag Die Entmaterialisierung des Geldes durch Apple Pay, Google Wallet und Paypal zeigt “Ibo” Evsan am Beispiel von Mobile Payments die fortschreitende Entstofflichung des Zahlungsverkehrs und damit des Zahlungs- und Tauschmittels “Geld”.
So einleuchtend diese Argumentation auch ist, sie enthält einen kleinen Schönheitsfehler. Denn, anders viele Anhänger der Digitalisierung, aus gutem Grund, annehmen, führt die Digitalisierung zu dem paradoxen Phänomen, dass die Materialisierung fast schon explosionsartig zunimmt.
In einem Interview wandte der Kunsthistoriker Horst Bredekamp gegen die Ansicht vieler Netzkünstler, ihre Kunstform sei weitestgehend materiefrei, ein:
Es ist ein abstruser Gedanke, daß ein Bild auf einem Screen materiefrei wäre. Das haben Videokünstler gerade der ersten Generation darin zugespitzt, daß sie den Fernseher als Skulptur genutzt haben. Die beweglichen oder auch nicht beweglichen Bilder der Screens sind mit einer Logistik behaftet, welche die Florentiner Pietà von Michelangelo um ein Vielfaches an materieller Gravitation übersteigt.
Und tatsächlich: Das Internet kann seine Wirkung nur entfalten, wenn im Hintergrund riesige Serverfarmen und Netzwerke ihren Dienst verrichten. Die Anforderungen an die Produktion und Logistik von Apple iPhones und iPads beispielsweise reichen locker an die Dimensionen altehrwürdiger Fertigungsverfahren, wie in der Stahl- und Automobilindustrie heran.
Als eine der noch immer kaum überwindlichen Hürden bei der Verbreitung der digitalen Währung Bitcoin gilt der enorme Rechenaufwand, der für das sog. Mining betrieben werden muss. Smartphones benötigen große Mengen sog. Seltener Erden. Rohstoffe sind auch für das digitale Banking unverzichtbar.
So gesehen handelt es lediglich um eine Verlagerung der materiellen Bestandteile des Banking im Zeitalter der Digitalisierung. Alte Formen lösen sich auf, neue bilden sich. Davon sind natürlich auch die klassischen Vertriebskanäle wie die Filialen betroffen. Aber auch hier gilt: Nicht alles verflüchtigt sich im Internet.
Im Banking, wie in anderen Bereichen auch, wird es darauf ankommen, die Balance zwischen Dematerialisierung auf der einen und Materialisierung auf der anderen Seite, so hinzubekommen, dass der Bezug der Kunden, wie aber auch der Finanzdienstleister selbst, zur “realen” Welt des Geldes bzw. des Banking nicht verloren geht.
Hier ist der Rat Bredekamps, den er seiner eigenen Zunft, den Kunstwissenschaften, ins Stammbuch schrieb, auch für das Banking im weiteren Sinne von Belang:
Gegenüber beiden Positionen, der einen, die glaubt, sagen zu können: “ich warte bis der Sturm vorbei ist, und dann ist die Welt wieder so, wie ich sie mir wünsche”, wie auch der zweiten, die ebenso heftig propagiert, wie sie danach vergißt, ist jedoch entgegenzuhalten, daß ein produktiver und kritischer Weg meines Erachtens nur hindurch führt. Eine pure Negation ist in der Konkurrenz zur Semiotik, zu den Visual Studies und zu den Spielarten der unhistorisch orientierten Medien- und Kommunikationswissenschaften halsbrecherisch.
Zu glauben, dass der Trend sich verflüchtigt und auf die Wiederauferstehung “Der Welt von gestern” zu warten, wie einige Banken noch immer zu hoffen scheinen, ist im Sinne Bredekamps halsbrecherisch. Die verzweifelten Versuche der Wiederbelebung alter Formate, wie der Filialen, die doch nur “neuer Wein in alte Schläuche” sind, werden die gewünschte Wirkung verfehlen.
Insofern zielen Marie Baumann und Christian Siedenbiedel in ihrem Beitrag Die Bank von morgen ist heute schon von gestern in die richtige Richtung.