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Bun­des­bank­prä­si­dent Joa­chim Nagel behaup­tet, Chi­na sei wirt­schaft­lich stär­ker auf Euro­pa ange­wie­sen als umge­kehrt. Doch die Rea­li­tät zeich­net ein ande­res Bild: Euro­pa gerät zuneh­mend in eine ein­sei­ti­ge Abhän­gig­keit – bei Roh­stof­fen, Tech­no­lo­gie und Markt­zu­gang. Der Nex­pe­ria-Fall ist nur der Anfang.


Es war eine jener Aus­sa­gen, die Zuver­sicht ver­mit­teln soll­ten. Bei einer Finanz­ver­an­stal­tung in Washing­ton ver­kün­de­te Joa­chim Nagel, Prä­si­dent der Deut­schen Bun­des­bank, dass Chi­na wirt­schaft­lich stär­ker auf Euro­pa ange­wie­sen sei als umge­kehrt. Sei­ne Begrün­dung: Die EU mit ihren 450 Mil­lio­nen Ein­woh­nern sei einer der welt­weit stärks­ten Wirt­schafts­räu­me. Euro­pa müs­se nur selbst­be­wuss­ter auf­tre­ten und sei­ne „euro­päi­sche Kar­te offen­si­ver ausspielen”.

Die Bot­schaft klingt beru­hi­gend. Sie passt in die Nar­ra­ti­ve der stra­te­gi­schen Auto­no­mie und der euro­päi­schen Sou­ve­rä­ni­tät. Nur: Sie geht an der Rea­li­tät vorbei.

Die Zah­len spre­chen eine ande­re Sprache

Wer sich die aktu­el­len Han­dels­da­ten anschaut, dem offen­bart sich ein beun­ru­hi­gen­des Bild. Chi­na ist nach den USA der wich­tigs­te Han­dels­part­ner der EU – mit über 845 Mil­li­ar­den Euro Han­dels­vo­lu­men im Jahr 2024. Doch die Sym­me­trie die­ser Bezie­hung ist längst zer­bro­chen. Chi­nas Han­dels­bi­lanz­über­schuss erreicht Rekord­hö­hen, wäh­rend Euro­pas Expor­te nach Chi­na 2025 mas­siv zurück­ge­hen. Gleich­zei­tig stei­gen die euro­päi­schen Impor­te aus Chi­na wei­ter an.

Das Pro­blem liegt tie­fer als in blo­ßen Han­dels­un­gleich­ge­wich­ten. Chi­na kon­trol­liert Schlüs­sel­bran­chen, von denen Euro­pas Wirt­schaft exis­ten­zi­ell abhängt: sel­te­ne Erden, Bat­te­rie­tech­no­lo­gie, Halb­lei­ter. Die chi­ne­si­sche Regie­rung nutzt die­se Macht zuneh­mend stra­te­gisch – sie schränkt Markt­zu­gän­ge ein, ver­bie­tet Expor­te kri­ti­scher Tech­no­lo­gien und setzt den Wes­ten gezielt unter Druck.

Euro­päi­sche Unter­neh­men sind auf zen­tra­le Roh­stoff-Lie­fe­run­gen aus Chi­na ange­wie­sen. Die EU-Han­dels­kam­mer und zahl­rei­che Ana­lys­ten war­nen vor einer sich ver­schär­fen­den Ein­bahn­stra­ße. Was einst eine wech­sel­sei­ti­ge Part­ner­schaft war, ent­wi­ckelt sich zu einer struk­tu­rel­len Abhän­gig­keit – mit Euro­pa auf der schwä­che­ren Seite.

Chi­nas stra­te­gi­sche Offensive

Wäh­rend Euro­pa noch von gleich­be­rech­tig­ter Part­ner­schaft spricht, ver­folgt Chi­na längst eine ande­re Stra­te­gie. Die chi­ne­si­sche Wirt­schafts­po­li­tik zielt sys­te­ma­tisch auf die Sub­sti­tu­ti­on west­li­cher Pro­duk­te und Tech­no­lo­gien ab. Peking macht sich unab­hän­gi­ger von Euro­pa und den USA, wäh­rend die EU immer stär­ker auf chi­ne­si­sche Bil­lig­pro­duk­te und Schlüs­sel­roh­stof­fe ange­wie­sen bleibt.

Die Asym­me­trie zeigt sich in jedem Detail: Chi­na expor­tiert nach Euro­pa, was Euro­pa braucht. Euro­pa expor­tiert nach Chi­na, was Chi­na immer weni­ger braucht. Deut­sche und euro­päi­sche Unter­neh­men sind zuneh­mend abhän­gig von Absatz­märk­ten und Zulie­fer­ket­ten in Chi­na – aber Chi­na ent­wi­ckelt sys­te­ma­tisch Alter­na­ti­ven zu euro­päi­schen Produkten.

Nex­pe­ria: Ein Vor­ge­schmack auf die Zukunft

Der Fall Nex­pe­ria im Jahr 2025 lie­fer­te einen bei­spiel­haf­ten Vor­ge­schmack auf das, was Euro­pa erwar­tet. Die Über­nah­me und staat­li­che Kon­trol­le des nie­der­län­di­schen Halb­lei­ter­her­stel­lers sowie Chi­nas anschlie­ßen­des Export­ver­bot für Nex­pe­ria-Chips führ­ten zu Pro­duk­ti­ons­stopps in der euro­päi­schen Auto- und Elek­tronik­bran­che. Lie­fer­ket­ten bra­chen zusam­men, Wer­ke stan­den still.

Der Vor­gang offen­bar­te Euro­pas Ver­wund­bar­keit mit erschre­cken­der Deut­lich­keit. Poli­tisch moti­vier­te Ent­schei­dun­gen in Peking kön­nen gan­ze Indus­trie­zwei­ge lahm­le­gen – weil die Lie­fer­ket­ten kaum diver­si­fi­ziert sind und Alter­na­ti­ven feh­len. Was in kri­ti­schen Momen­ten zählt, ist nicht die Grö­ße des eige­nen Mark­tes, son­dern die Kon­trol­le über das, was die­ser Markt zum Funk­tio­nie­ren braucht.

Die Illu­si­on der Verhandlungsmacht

Nagels Aus­sa­ge ist poli­tisch moti­viert und stra­te­gisch gemeint. Sie soll Ver­hand­lungs­macht sug­ge­rie­ren. Doch Ver­hand­lungs­macht ent­steht nicht durch opti­mis­ti­sche Rhe­to­rik, son­dern durch rea­le Alter­na­ti­ven. Und genau die feh­len Europa.

Stu­di­en für 2030 pro­gnos­ti­zie­ren, dass Euro­pa trotz aller poli­ti­schen Ent­kopp­lungs­be­mü­hun­gen wei­ter­hin stark von chi­ne­si­schen Lie­fer­ket­ten und Roh­stoff­im­por­ten abhän­gig blei­ben wird. Beson­ders bei sel­te­nen Erden, Bat­te­rie­tech­no­lo­gie und Halb­lei­tern ist Chi­nas Domi­nanz so aus­ge­prägt, dass ein schnel­ler Kurs­wech­sel kaum mög­lich erscheint. Neue Initia­ti­ven in Euro­pa sind bis­her weder wett­be­werbs­fä­hig noch robust genug.

Füh­ren­de Wirt­schafts­in­sti­tu­te und euro­päi­sche Bran­chen­ver­tre­ter wider­spre­chen Nagel deut­lich. Sie ver­wei­sen auf das rea­le Risi­ko, dass Chi­na im Ernst­fall sei­ne wirt­schaft­li­che Macht gezielt als Hebel gegen Euro­pa ein­set­zen könn­te – und dass Euro­pa die­sem Druck wenig ent­ge­gen­zu­set­zen hätte.

Eine unbe­que­me Wahrheit

Die Wahr­heit ist unbe­quem: Euro­pa ist nicht in der stär­ke­ren Posi­ti­on. Die asym­me­tri­sche Abhän­gig­keit wird sich in den nächs­ten Jah­ren wei­ter zuguns­ten Chi­nas ver­stär­ken, wenn Euro­pa nicht grund­le­gend umsteu­ert. Diver­si­fi­zie­rung der Lie­fer­ket­ten, Auf­bau eige­ner Pro­duk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten, kon­se­quen­te Zusam­men­ar­beit inner­halb der EU – all das sind not­wen­di­ge Schrit­te. Doch sie wer­den Jah­re dau­ern und immense Inves­ti­tio­nen erfordern.

Bis dahin soll­te Euro­pa auf­hö­ren, sich Illu­sio­nen hin­zu­ge­ben. Selbst­be­wusst­sein ist wich­tig, aber es darf nicht in Selbst­täu­schung umschla­gen. Wer sei­ne Schwä­che nicht erkennt, kann sie nicht über­win­den. Und wer glaubt, die stär­ke­re Kar­te zu haben, wäh­rend er in Wahr­heit am kür­ze­ren Hebel sitzt, ris­kiert im Ernst­fall alles.

Der Nex­pe­ria-Fall war nur ein Vor­ge­schmack. Die Fra­ge ist nicht, ob Chi­na sei­ne wirt­schaft­li­che Macht aus­spie­len wird – son­dern wann, und ob Euro­pa dann vor­be­rei­tet sein wird.


Quel­len:

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