Eine Frage, die hierzulande viele von uns umtreibt, ist, woraus die Zauber- bzw. Erfolgsformel des Silicon Valley besteht. Da scheinen fast schon übermenschliche, metaphysische Kräfte am Werk zu sein; anders ist es kaum zu erklären, wie es einer von der Sonne verwöhnten Region im Westen der USA seit Jahren, Jahrzehnten gelingt, uns immer wieder mit neuen Produkten, genannt seien nur das iPhone und der Tesla, ebenso wie mit “disruptiven” Geschäftsmodellen (Uber, AirBnb) ins Staunen zu versetzen; nicht selten nach einer Phase heftigster Ablehnung.
Mario Herger, gebürtiger Österreicher, langjähriger Entwicklungsleiter von SAP und seit 2001 im Silicon Valley wohnhaft, wo er ein eigenes Unternehmen gegründet hat, hebt in dem Buch Das Silicon Valley Mindset den Schleier, der sich über die Jahre auf das Silicon Valley gelegt und nicht selten zu dessen Mystifizierung geführt hat. Ziel ist es, uns Europäern das Mindset des Silicon Valley näher zu bringen und zu zeigen, was wir davon lernen und wie wir unsere Stärken damit verbinden können.
Das wesentliche Merkmal des Silicon Valley Mindset besteht in der Bevorzugung disruptiver gegenüber inkrementellen Innovationen. Herger schreibt:
Inkrementelle Innovation wird vor allem von Experten durchgeführt. Von Spezialisten, die sich in der Materie sehr gut auskennen und sie optimieren können. Die Abgaswerte eines Dieselmotors immer mehr zu reduzieren, den Produktionsprozess um zehn Prozent effizienter zu machen, die Wartezeiten vor dem Fahrkartenschalter um 20 Sekunden zu reduzieren, dazu benötigt man Expertise.
Disruptive Innovation wird aber vor allem von Nichtexperten geschaffen und überrascht deshalb oft die eigentlichen Experten. Wei sie gut erklären können, warum etwas nicht klappen wird, sind die völlig verblüfft, wenn jemand einen kombinierten, innovativen Ansatz hat, der die Rahmenbedingungen ändert. Darum werden diese Ansätze von den Experten so lange ignoriert, bis es zu spät ist.
Noch immer halten viele “Experten” die Elektroautos von Tesla ebenso wie Selbstfahrende Autos für einen Hype. Wie können Nicht-Ingenieure, Nicht-Experten es überhaupt wagen, eine Industrie herauszufordern, die seit Jahrzehnten mit dem Verbrennungsmotor und dem Motto “Aus Freude am Fahren” von Absatzrekord zu Absatzrekord (wir lassen jetzt mal das Thema Eigenzulassungen außen vor) eilt? Ganz einfach: Weil sie das Problem anders angehen bzw. anders interpretieren:
Automobilhersteller und Transportdienstleister sehen sich seit geraumer Zeit von Silicon-Valley-Firmen unter Druck gesetzt. Firmen wie Tesla Motors, Google, Apple oder das mittlerweile dichtgemachte Better Place bringen disruptive Technologien auf den Markt. Uber, Lyft und andere Ridesharing-Plattformen ändern die Art, wie wir Transportdienstleistungen erleben. Was diese Firmen von traditionellen Automobilbauern unterscheidet, sind die Hintergründe der Firmengründer. Sie kommen alle aus dem Softwaresektor und betrachten die Probleme als Softwareproblem. Die Wertschöpfung liegt nicht mehr so sehr im “Verbiegen von Blech”, sondern im Programmieren von Softwarecode.
Die Automobilhersteller haben laut Herger noch nicht realisiert, dass für die meisten Menschen Fahren, d.h. die Bedienung eines Autos, Zeitverschwendung ist und keineswegs zur Erbauung beiträgt:
Ein Auto soll zwischenmenschliche Verbindungen in der physischen Welt ermöglichen. Das Auto ist ein “Connector”. Ich fahre nicht in die Stadt, weil ich Freude am Fahren habe, sondern weil ich mich mit Freunden treffe. … Ein iPhone ist ein virtueller Connector zwischen Menschen. Wenn ich mit dem Auto fahren muss, kann ich mich in diesem Moment nicht mit ihnen verbinden, weil ich auf den Verkehr achten muss.
Die Diagnose gilt in weiten Teilen auch für die Bankenbranche. Auch hier glauben viele noch immer, dass die Menschen eine Filiale aus reiner Freude an der Begegnung mit dem Kundenberater ihres Vertrauens und der gelungenen Innenarchitektur, ja überhaupt der einzigartigen Performance wegen, aufsuchen. Ebenso hartnäckig hält sich die Überzeugung, das eigene Geschäft bestehe nach wie vor aus der Fristentransformation von Einlagen und Darlehen. Es wird eifrig an der Verbesserung der Effizienz, an der Optimierung der eigenen Abläufe, an inkrementellen Innovationen gebastelt, während sich die Kunden auf anderen Plattformen bewegen, die mehr Möglichkeiten zur Vernetzung, zum Informationsaustausch und zur Unterhaltung bieten.
Herger geht auf den Bereich Fintech in seinem Buch nur am Rande ein. Erwähnt werden u.a. Square, PayPal, Lending Club und Western Union.
Am Beispiel von Western Union wird für Herger deutlich, dass auch Banken bzw. Finanzdienstleister mit der richtigen Einstellung vom Silicon Valley Mindset profitieren können.
Auch in Europa greift das Silicon Valley Mindset um sich, wie in Berlin; aber auch in Finnland, wo nach dem Niedergang von Nokia aus dessen näherem Umfeld zahlreiche Startups entstanden sind. Der wesentliche Unterschied zwischen der amerikanischen, und hier insbesondere der kalifornischen, Mentalität und der europäischen besteht laut Herger darin, dass die Amerikaner äußeren Einflüssen eine weitaus geringere Wirkung auf den Erfolg im Leben einräumen, als dass in Europa der Fall ist.
Fakt ist, dass Europa in vielen Technologiebereichen den Anschluss verloren hat und dabei ist, die Digitale Souveränität zu verlieren. Dass wir in Europa einen neuen Gründergeist benötigen, dürfte inzwischen Konsens sein. Die Frage ist nur, ob unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, unser Wirtschaftsstil hierfür geeignet ist. Zu den Stärken zählen unser Bildungs- und Gesundheitssystem. Was müssen wir aufgeben und was gewinnen wir dadurch? Sollten wir jetzt das Silicon Valley zu kopieren versuchen, wie damals die japanische Industrie mit ihrem Lean Management? Welche Komponenten des Silicon Valley Mindset lassen sich mit dem europäischen kombinieren? Ein Mittel ist sicherlich der rege Informationsaustausch mit dem Silicon Valley, wie über sog. Brückenorganisationen (German Accelerator) und sog. Outposts (SAP Labs in Palo Alto), kurzum: Mehr Offenheit gegenüber einem Mindset, der bereit ist, die Dinge in einem anderen, neuen Licht zu betrachten und sich nicht von althergebrachten Standards und sog. Expertenmeinungen einschüchtern lässt.
Für sich selbst beschreibt Herger sein Credo:
An meinem 40. Geburtstag wurde mir klar, dass ich maximal noch 40 Jahre zu leben habe. Und die wollte ich nicht mit Dingen vergeuden, die keinen Spass machen, und auch nicht mit Menschen verbringen, die mir durch ihre Negativität wertvolle Energie rauben. Ich wollte mich mit Leuten umgeben, die Ideen zum Wohle der Menschheit haben und diese Ideen auch umsetzen, die eine positive Einstellung zum Leben haben und Energie ausstrahlen.