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Deutschland in den 1870er Jahren: Eine Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs verwandelt sich plötzlich in ein Desaster. Was damals geschah, wirft bis heute Fragen auf – und liefert verblüffende Parallelen zu modernen Finanzkrisen. Forschungen enthüllen: Die erste große Spekulationsblase der deutschen Geschichte war anders, als wir dachten.
Es war eine Zeit der Euphorie. Nach dem Sieg über Frankreich 1871 strömten Millionen von Francs als Reparationszahlungen ins Deutsche Reich. Das Geld suchte Anlage, Unternehmer witterten Chancen, Börsianer träumten von schnellem Reichtum. Doch aus dem Boom wurde binnen weniger Jahre ein Albtraum: Die Gründerkrise von 1873 bis 1879 gilt als eine der ersten modernen Finanzmarktkrisen der Welt.
Was damals wirklich geschah, beschäftigt Wirtschaftshistoriker bis heute. Neure Studien zeichnen ein überraschend detailliertes Bild jener turbulenten Jahre – und kommen zu Erkenntnissen, die unser Verständnis von Spekulationsblasen und deren Folgen grundlegend verändern.
Als der Staat die Zügel lockerte
Der Ausgangspunkt der Krise lag in einer gut gemeinten Reform: 1870 liberalisierte das Deutsche Reich sein Aktienrecht radikal. Plötzlich konnten Unternehmen ohne staatliche Genehmigung als Aktiengesellschaft gegründet werden. Die Folge war ein wahrer Gründungsrausch: Allein 1872 entstanden mehr Aktiengesellschaften als in den gesamten zehn Jahren zuvor.
Doch die Qualität der neuen Unternehmen war verheerend. Moderne Analysen zeigen: Firmen, die nach der Gesetzesänderung gegründet wurden, hatten eine signifikant geringere Überlebenschance als ihre Vorgänger. Besonders dramatisch war die Lage bei den neu entstehenden Banken. Viele existierten nur wenige Jahre, manche sogar nur Monate.
Die Lehre ist bitter: Deregulierung ohne angemessene Kontrolle kann katastrophale Folgen haben. Eine Erkenntnis, die in Zeiten globaler Finanzmärkte hochaktuell bleibt.
Europa als Schauplatz der ersten globalisierten Krise
Bemerkenswert an der Gründerkrise war ihre internationale Dimension. Erstmals in der Geschichte verbreitete sich eine Finanzkrise binnen weniger Wochen über ganz Europa. Von Wien über Berlin bis nach Paris und London gingen die Kurse in den Keller.
Diese Synchronität war kein Zufall: Die europäischen Börsen waren bereits in den 1870er Jahren erstaunlich gut vernetzt. Aktien größerer Unternehmen wurden gleichzeitig in mehreren Hauptstädten gehandelt, Preisunterschiede glichen sich binnen Stunden aus. Telegraph und Eisenbahn hatten Europa zu einem einzigen großen Finanzmarkt verschmolzen – Jahrzehnte bevor dies offiziell anerkannt wurde.
Berlin übernimmt die Führung
Besonders aufschlussreich ist die Frage, wo die Krise ihren Ausgang nahm. Lange galt Wien als Epizentrum, war doch der dortige Börsencrash vom Mai 1873 das Signal für den europaweiten Absturz. Doch neueste Untersuchungen zeichnen ein anderes Bild: Die entscheidenden Marktbewegungen gingen von Berlin aus.
Diese Erkenntnis ist mehr als ein historisches Detail. Sie markiert den Moment, in dem Berlin London und Paris als führenden Finanzplatz Kontinentaleuropas ablöste. Die preußische Hauptstadt wurde zum Zentrum eines neuen, deutschen Kapitalismus – mit allen Chancen und Risiken.
Eine Krise ohne reale Folgen?
Am überraschendsten ist jedoch ein anderer Befund: Die Gründerkrise war eine reine Finanzmarktkrise. Trotz spektakulärer Börsencrashs und zahlreicher Firmenpleiten blieb die deutsche Realwirtschaft weitgehend unbeeinflusst. Fabriken produzierten weiter, der Handel florierte, die Arbeitslosigkeit stieg nur marginal.
Dieses Phänomen widerspricht dem gängigen Bild von Finanzkrisen als Katalysatoren wirtschaftlicher Rezessionen. Es zeigt: Nicht jeder Börsencrash führt automatisch zu einer Wirtschaftskrise. Die Gründerzeit war ein Finanzmarkt-Tsunami, der an der Realwirtschaft wie an einem Felsen brandete.
Lehren für heute
Was bedeuten diese Erkenntnisse für unsere Zeit? Die Parallelen zu modernen Krisen sind verblüffend: Auch heute entstehen Spekulationsblasen oft nach Deregulierungen. Auch heute verbreiten sich Krisen binnen Stunden über den gesamten Globus. Und auch heute stellt sich die Frage, wann Finanzmarktturbulenzen die reale Wirtschaft erfassen.
Die Gründerkrise lehrt uns: Märkte sind mächtiger und vernetzter, als Politiker oft wahrhaben wollen. Gleichzeitig sind sie aber auch weniger vorhersagbar in ihren Auswirkungen auf die Realwirtschaft, als Ökonomen gerne behaupten.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich – wie Mark Twain treffend bemerkte. Die Gründerzeit von 1873 liefert den Rhythmus für ein Lied, das wir bis heute immer wieder hören: das Lied von Gier und Angst, von Boom und Bust, von der ewigen Hoffnung der Menschen, diesmal sei alles anders.
Quellen:
Der Berliner Kapitalmarkt nach der Reichsgründung 1871
Börsenfieber und Kaufrausch
