David Morier Evans und Walter Bagehot – zwei Blicke auf die City of London
Zwei viktorianische Finanzjournalisten, zwei Bücher über die City – und doch könnten die Perspektiven kaum unterschiedlicher sein. David Morier Evans’ „The City” (1845) und Walter Bagehots „Lombard Street” (1873) rahmen zusammen eine Epoche des Umbruchs ein. Der eine beobachtete die Akteure, der andere das System. Beide zusammen erst ergeben das vollständige Bild.
Zwei Journalisten, zwei Welten
Als David Morier Evans 1845 seine „Physiology of London Business” veröffentlichte, war er Anfang zwanzig und arbeitete als Assistant City Correspondent bei der Times. Er schrieb aus dem Inneren der Coffee Houses, von den Korridoren des Royal Exchange, aus einer Welt, die er täglich beobachtete. Sein Buch gehört zur Gattung der französischen „Physiologien” – jener urbanen Skizzen, die seit den 1840er Jahren in Paris populär waren und die Stadt als lebenden Organismus zu sezieren versuchten. Evans übertrug diese Tradition auf die Londoner Finanzwelt.
Walter Bagehot hingegen war bereits ein etablierter Intellektueller, als er 1873 „Lombard Street” schrieb. Seit sechzehn Jahren Herausgeber des Economist, verheiratet mit der Tochter des Gründers, Berater von Schatzkanzlern beider Parteien. Bagehot schrieb nicht aus der Mitte des Getümmels, sondern von einer Position der Distanz – und des Systems. Sein Buch entstand im Schatten der Overend-Gurney-Krise von 1866, als der Zusammenbruch eines großen Wechselmaklers die City an den Rand des Kollapses brachte.
Die Methode: Typologie versus Mechanik
Evans’ Ansatz war ethnographisch. Er katalogisierte Typen: den Stockbroker, den Bill-Discounter, den Merchant, den „City Man” in seinen verschiedenen Ausprägungen. Sein Blick galt den Codes, den Ritualen, den ungeschriebenen Regeln des sozialen Verkehrs in den Coffee Houses. Garraway’s, das Jerusalem, Jonathan’s – diese Orte waren für Evans Bühnen, auf denen sich das Drama des Handels abspielte. Er beschrieb, wie Reputation aufgebaut und zerstört wurde, wie Gerüchte zirkulierten, wie informelle Netzwerke funktionierten.
Bagehot interessierte sich für die Mechanik. Wie fließt Geld durch das System? Warum hält die Bank of England die Reserven für die gesamte Wirtschaft? Was passiert, wenn das Vertrauen kollabiert? Seine berühmte Formel – „lend freely, at a high rate, on good collateral” – ist eine Handlungsanweisung für Systemstabilität, nicht eine Beschreibung sozialer Praxis. Bagehot dachte in Strömen und Beständen, in Gleichgewichten und Ungleichgewichten.
Der historische Moment
Evans schrieb am Vorabend der Railway Mania, jener Spekulationsblase, die zwischen 1845 und 1847 das Land erfasste. Das Parlament autorisierte in diesen Jahren 8.590 Meilen neuer Eisenbahnstrecken – mehr als das Vierfache des bestehenden Netzes. Die Zahl der an der Londoner Börse gehandelten Eisenbahnpapiere verdreifachte sich, fünfzehn neue Regionalbörsen entstanden. Selbst Charles Darwin und die Brontë-Schwestern investierten. Evans dokumentierte eine City im Fieber, ohne zu wissen, dass der Zusammenbruch unmittelbar bevorstand.
Die überarbeitete Fassung seines Buches von 1852, erschienen unter dem Titel „City Men and City Manners”, enthielt dann bereits Kapitel über die Railway Mania und ihren Kollaps. Evans hatte sich vom Beobachter zum Chronisten der Krise gewandelt. Seine späteren Bücher – „The Commercial Crisis, 1847–8″ und „Facts, Failures, and Frauds” – zeigen einen Autor, der zunehmend die dunklen Seiten des Finanzkapitalismus in den Blick nahm.
Bagehot schrieb nach der Krise. Die Overend-Gurney-Panik von 1866 hatte gezeigt, dass die Bank of England faktisch die Funktion eines Lenders of Last Resort ausübte – ohne dies je offiziell anzuerkennen. Bagehots eigentliches Anliegen war nicht, der Bank zu sagen, was sie tun sollte. Es war, sie zu zwingen, öffentlich anzuerkennen, was sie bereits tat. „The practice of the Bank has been much and greatly improved”, schrieb er. Sein Kampf galt der Heuchelei der Institution, nicht ihrer Praxis.
Zwei Arten des Wissens
Evans lieferte, was die Anthropologie „dichtes Wissen” nennt: Kontext, Nuance, die Textur des sozialen Lebens. Wer verstehen will, wie Vertrauen in der City funktionierte, bevor es Kreditratings und formalisierte Regulierung gab, muss Evans lesen. Seine Beschreibungen der Coffee Houses zeigen eine Welt, in der Information noch an physische Präsenz gebunden war – wo der Ruf eines Mannes davon abhing, ob er im richtigen Moment am richtigen Tisch saß.
Bagehot lieferte Systemwissen: Wie hängen die Teile zusammen? Wo liegen die Schwachstellen? Was tun im Notfall? Seine Analyse der „one reserve system” – der Tatsache, dass die gesamte britische Wirtschaft von den Goldreserven der Bank of England abhing – war ein frühes Beispiel für das Denken in systemischen Risiken. Bagehot sah, was Evans nicht sehen konnte: dass die informellen Netzwerke der Coffee Houses bereits von einer neuen, abstrakteren Form der Finanzarchitektur überlagert wurden.
Die Wirkungsgeschichte
Evans ist heute weitgehend vergessen. Seine Bücher werden von Antiquaren gehandelt und gelegentlich von Wirtschaftshistorikern zitiert, die eine authentische Stimme aus der Mitte des 19. Jahrhunderts suchen. Er endete bankrott, verstrickt in dubiose Geschäfte mit dem Firmengründer Albert Grant, seine eigene Zeitung „The Hour” gescheitert.
Bagehot hingegen wurde kanonisiert. „Lombard Street” gilt als Bibel des Zentralbankwesens. Während der Finanzkrise 2008 hatte Fed-Chairman Ben Bernanke Bagehots Namen ständig auf den Lippen. Die Bank of England führt regelmäßig „Bagehot Lectures”, der Economist veröffentlicht wöchentlich eine Kolumne unter seinem Namen. James Grant nannte ihn „the greatest Victorian” – und meinte es nicht ironisch.
Die unterschiedliche Rezeption sagt etwas über die Art des Wissens, die unsere Institutionen privilegieren. Systemwissen ist skalierbar, formalisierbar, in Regeln übersetzbar. Ethnographisches Wissen ist partikulär, kontextabhängig, schwer zu kodifizieren. Bagehot lieferte etwas, das Zentralbanker in Handbücher schreiben konnten. Evans lieferte etwas, das man nur durch Lektüre erfahren kann.
Komplementäre Perspektiven
Zusammen gelesen ergeben beide Autoren ein Bild, das keiner allein liefern könnte. Evans zeigt, wie die City vor der Formalisierung funktionierte – als Netzwerk informeller Institutionen, persönlicher Reputation, face-to-face Interaktion. Bagehot zeigt, wie daraus ein System wurde, das abstrakte Regeln und institutionelle Absicherungen erforderte. Der Übergang von der einen Welt in die andere war das eigentliche Drama des viktorianischen Finanzkapitalismus.
Für die heutige Diskussion über Finanzsysteme sind beide Perspektiven relevant. Bagehots Erben – die Zentralbanker, die Regulatoren, die Systemarchitekten – denken in Mechanismen. Aber jede Krise zeigt aufs Neue, dass Märkte auch aus Menschen bestehen, aus Netzwerken, aus Vertrauensbeziehungen, die sich nicht in Formeln fassen lassen. Die Coffee Houses sind verschwunden, aber ihre Funktion – Information, Reputation, informelle Koordination – hat neue Formen angenommen. Wer sie verstehen will, braucht immer noch Beobachter vom Schlage eines Evans.
Die Lektüre beider Autoren zusammen ist auch ein Korrektiv gegen die Hybris der Systemperspektive. Bagehots Regel – im Notfall großzügig zu leihen – wurde zum Freibrief für immer expansivere Zentralbankinterventionen. Was als Notfallmedizin gedacht war, wurde zur Dauertherapie. Evans’ skeptischer Blick auf die „City Men”, auf ihre Schwächen, Eitelkeiten und Selbsttäuschungen, mahnt zur Vorsicht. Die Akteure, die das System bevölkern, sind nicht die rationalen Kalkulatoren der Theorie. Sie sind Menschen mit begrenzter Einsicht, getrieben von Gier und Angst, eingebettet in soziale Netze, die ihre Wahrnehmung formen.
Schluss
Evans und Bagehot repräsentieren zwei Traditionen des Verstehens, die beide ihre Berechtigung haben. Der Ethnograph und der Systemdenker, der Beobachter und der Architekt, der Chronist des Alltags und der Theoretiker der Krise. Die Geschichte der Finanzwissenschaft hat Bagehot privilegiert, weil sein Wissen handlungsrelevant war. Aber für ein volles Verständnis dessen, was Finanzmärkte sind und wie sie funktionieren, bleibt Evans unverzichtbar. Sein Buch verdient die Wiederentdeckung – nicht als Kuriosität, sondern als Korrektur.
Ralf Keuper
Quellen:
David Morier Evans
Wikipedia: David Morier Evans
https://en.wikipedia.org/wiki/David_Morier_Evans
Dictionary of National Biography (1885–1900): Evans, David Morier
https://en.wikisource.org/wiki/Dictionary_of_National_Biography,_1885-1900/Evans,_David_Morier
Oxford Dictionary of National Biography: Evans, David Morier (1818–1874)
https://www.oxforddnb.com/display/10.1093/ref:odnb/9780198614128.001.0001/odnb-9780198614128-e-8950
Nuckley Rare Books: The City (1845) – Erstausgabe
https://nuckleyrarebooks.com/product/the-city-1845/
AbeBooks: City Men and City Manners (1852)
https://www.abebooks.com//servlet/SearchResults?tn=City:+Or,+Physiology+London+Business
Walter Bagehot
Wikipedia: Lombard Street: A Description of the Money Market
https://en.wikipedia.org/wiki/Lombard_Street:_A_Description_of_the_Money_Market
Britannica: Walter Bagehot
https://www.britannica.com/money/Walter-Bagehot
Victorian Web: Walter Bagehot – A Brief Biography
https://www.victorianweb.org/authors/bagehot/bio.html
History Today: Walter Bagehot
https://www.historytoday.com/archive/walter-bagehot
Online Library of Liberty: Lombard Street (Volltext)
https://oll.libertyfund.org/titles/bagehot-lombard-street-a-description-of-the-money-market
New Rambler Review: Misreading Walter Bagehot
https://newramblerreview.com/book-reviews/economics/misreading-walter-bagehot-what-lombard-street-really-means-for-central-banking
INET: What Bagehot Means for 21st Century Central Bankers
https://www.ineteconomics.org/perspectives/blog/bagehot-for-central-bankers
Taylor & Francis: Walter Bagehot and Lombard Street (1873) – 150-Year Retrospective
https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09672567.2024.2411893
Reserve Bank of Australia: Bagehot and the Lender of Last Resort – 150 Years On
https://www.rba.gov.au/speeches/2023/sp-ag-2023–12-14.html
Federal Reserve: Bagehot’s Dictum in Practice
https://www.federalreserve.gov/newsevents/speech/madigan20090821a.htm
Octavian Report: James Grant on Walter Bagehot and The Economist
https://octavianreport.com/article/james-grant-walter-bagehot-economist/
EH.net: Rezension von James Grant, Bagehot: The Life and Times of the Greatest Victorian
https://eh.net/book_reviews/bagehot-the-life-and-times-of-the-greatest-victorian/
City of London – Institutionen und Coffee Houses
Wikipedia: Royal Exchange, London
https://en.wikipedia.org/wiki/Royal_Exchange,_London
London Museum: A History of the Royal Exchange
https://www.londonmuseum.org.uk/collections/london-stories/history-royal-exchange/
Wikipedia: Jonathan’s Coffee-House
https://en.wikipedia.org/wiki/Jonathan’s_Coffee-House
London Walks: The History of London’s Coffee Houses
https://www.walks.com/blog/history-of-london-coffeehouses/
Memoirs of a Metro Girl: London’s Old Coffee Houses
https://memoirsofametrogirl.com/2024/02/19/london-old-coffee-houses-history-17th-18th-century/
Chris Skinner: How The City Developed – The London Stock Exchange
https://thefinanser.com/2011/12/how-the-city-developed-part-eight-the-london-stock-exchange
Insider London: The Origins of the London Stock Exchange https://www.insiderlondon.com/blog/london-stock-exchange-history/
Railway Mania und Handelskrise 1847
Wikipedia: Railway Mania
https://en.wikipedia.org/wiki/Railway_Mania
Liberty Street Economics (NY Fed): Railway Mania, the Hungry Forties, and the Commercial Crisis of 1847
https://libertystreeteconomics.newyorkfed.org/2015/06/crisis-chronicles-railway-mania-the-hungry-forties-and-the-commercial-crisis-of-1847/
FocusEconomics: Railway Mania – The Largest Speculative Bubble You’ve Never Heard Of
https://www.focus-economics.com/blog/railway-mania-the-largest-speculative-bubble-you-never-heard-of/
The Bubble Bubble: The British Railway Mania of the 1840s
https://www.thebubblebubble.com/railway-mania/
Tontine Coffee-House: Railway Mania
https://tontinecoffeehouse.com/2023/07/24/railway-mania/
Winton: Railway Mania
https://www.winton.com/news/railway-mania
CEPR VoxEU: The Railway Mania – Not So Great Expectations?
https://cepr.org/voxeu/columns/railway-mania-not-so-great-expectations
Taylor & Francis: Managerial Failure in Early Victorian Britain – Network and Capital Expansion during the Railway Mania
https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/00076791.2022.2096877
History Hit: How Was the City of London Almost Destroyed from a Coffee House? (South Sea Bubble)
https://www.historyhit.com/the-south-sea-bubble/
Das Genre der „Physiologien”
Brown University: Panoramic Literature in 19th Century Paris
https://library.brown.edu/cds/paris/Zevin.html
Brown University: Paris – Capital of the 19th Century (Les Français peints par eux-mêmes)
https://library.brown.edu/cds/paris/Goldstein.html
OpenEdition Journals: L’exploration de la société à Paris au XIXe siècle – des physiologies aux encyclopédies
https://journals.openedition.org/bcrfj/7422?lang=en
Between Journal: Breaking up the Crowd – The Literary Caricature from the French “Physiologies” to Collodi
https://ojs.unica.it/index.php/between/article/view/2175
Taylor & Francis: Chronicles of Clumsiness – Hyperopic Flâneurs in 19th-Century Paris
https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1179/12Z.00000000015
Project Gutenberg: The Human Comedy – Introduction (Balzac und die Physiologien)
https://www.gutenberg.org/files/1968/1968‑h/1968‑h.htm
Primärquelle
Internet Archive: The City; or, The Physiology of London Business (Digitalisat)
https://archive.org/search?query=david+morier+evans+city+physiology+london
