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Zwischen 20 und 30 Prozent der mittelständischen Unternehmen in Deutschland wirtschaften mit so schmalen Liquiditätsreserven, dass jede Einnahmenunterbrechung umgehend eine existenzielle Krise auslösen kann. Doch angesichts der sich verschärfenden Gesamtsituation erscheint selbst diese dramatische Einschätzung noch zu optimistisch.
Es ist eine beunruhigende Wahrheit, die in Jahresabschlüssen und Bilanzen verborgen liegt: Ein erheblicher Anteil des deutschen Mittelstands lebt wirtschaftlich von der Hand in den Mund. Was nach außen oft solide wirkt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als fragiles Konstrukt, das bereits bei kleinsten Erschütterungen zusammenzubrechen droht.
Die Zahlen der KfW aus der Pandemiezeit zeichneten bereits ein alarmierendes Bild: Mitte 2021 hatten rund 27 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen einen spürbaren Rückgang ihrer liquiden Mittel zu verkraften. Noch dramatischer: 22 Prozent verfügten lediglich über Liquiditätsreserven für maximal zwei Monate. Im April 2020, auf dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle, war dieser Anteil mit 51 Prozent sogar mehr als doppelt so hoch gewesen. Zwei Monate ohne Einnahmen – danach folgt die Zahlungsunfähigkeit. Für viele Unternehmen bedeutet das: Sie stehen permanent mit einem Bein in der Insolvenz.
Zwar schien sich die Lage zwischenzeitlich stabilisiert zu haben, doch diese vermeintliche Erholung entpuppt sich zunehmend als Trugschluss. Die strukturellen Schwächen blieben bestehen, die Risiken haben sich sogar verschärft. Besonders kleinere und mittlere Betriebe verfügen selten über substantielle Kapitalreserven. Wenn Umsatzprognosen verfehlt werden, wenn Zahlungsziele sich verschieben oder Großkunden ausfallen, wenn Kapitaldienste weiterlaufen, während die Einnahmen stocken – dann wird aus der latenten Bedrohung binnen Wochen akute Existenznot.
Die durchschnittliche Eigenkapitalquote im Mittelstand liegt zuletzt zwar bei über 30 Prozent, doch diese Durchschnittswerte täuschen über die dramatischen Unterschiede hinweg. Viele Branchen, allen voran Automotive, Maschinenbau und Handel, weisen deutlich geringere Sicherheitspuffer auf. In diesen Sektoren wirtschaften Unternehmen oft mit Eigenkapitalquoten im niedrigen zweistelligen oder gar einstelligen Prozentbereich – ein gefährliches Spiel mit dem Feuer in volatilen Zeiten.
Die Realität ist düsterer als die Statistik
Doch selbst diese bereits besorgniserregenden Zahlen aus der Pandemiezeit erscheinen heute, angesichts der sich überlagernden Krisen, geradezu optimistisch. Die aktuelle Wirtschaftslage des deutschen Mittelstands hat sich dramatisch verschlechtert. Repräsentative Sonderumfragen und Branchenanalysen für 2025 zeichnen ein erschreckendes Bild: Inzwischen berichten über 50 Prozent der kleinen Unternehmen von massiven Liquiditätsengpässen im vergangenen Jahr – mehr als eine Verdoppelung gegenüber der Vor-Pandemie-Zeit.
Die harten Fakten sprechen eine eindeutige Sprache: 53 Prozent der Kleinunternehmen meldeten akute Liquiditätsprobleme im vergangenen Jahr. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen steigt überproportional. Allein im ersten Halbjahr 2025 wurden 11.900 Insolvenzen verzeichnet, wobei der Anstieg im industriell geprägten Mittelstand mit Betrieben zwischen 11 und 50 Beschäftigten mit bis zu 17 Prozent besonders dramatisch ausfällt. Für das Gesamtjahr werden bis zu 32.000 Unternehmensinsolvenzen erwartet – ein Anstieg von 23 Prozent gegenüber 2024.
Diese Gruppe ist derzeit besonders gefährdet, weil hier zwei fatale Entwicklungen zusammentreffen: Die während der Pandemie gebildeten Rücklagen sind längst aufgebraucht, und Kreditlinien werden von risikoaverser gewordenen Banken oft nicht verlängert. 40 Prozent der Mittelständler meldeten bereits 2024 Umsatzeinbußen, und der Anteil der Unternehmen mit klar verschlechterter Geschäftslage nimmt stetig zu.
Leben ohne Netz
Über ein Drittel der mittelständischen Unternehmen arbeitet praktisch ohne substanziellen Liquiditätspuffer – im Industriebereich liegt dieser Anteil noch deutlich höher. Diese Betriebe wirtschaften buchstäblich ohne Sicherheitsnetz. Ein wirtschaftlicher Schock, ein plötzlicher Auftragseinbruch, eine verzögerte Zahlung eines Großkunden – und die Zahlungsunfähigkeit tritt unmittelbar ein. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass diese Unternehmen de facto permanent am Rand der Insolvenz operieren.
Die generelle Stimmung in dieser Unternehmensgruppe ist auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. Das ist nicht nur eine Frage der Psychologie, sondern spiegelt reale wirtschaftliche Bedrohungen wider: steigende Energie- und Rohstoffkosten, Fachkräftemangel, zunehmende Bürokratie, schwächelnde Auslandsmärkte und eine nachlassende Binnennachfrage bilden einen toxischen Cocktail, der selbst vormals robuste Geschäftsmodelle unter Druck setzt.
Eine gerechtfertigte Skepsis
Seriöse Studien, Bankenanalysen und Verbandsumfragen belegen einhellig: Die Zahl der Unternehmen, die nur noch knapp an der Insolvenz vorbeiwirtschaften, steigt aktuell deutlich stärker, als es die meisten offiziellen Paneldaten widerspiegeln. Die Wahrheit ist oft unangenehmer als die Statistik. Viele Betriebe hangeln sich von Quartal zu Quartal, stunden Verbindlichkeiten, verhandeln Zahlungsziele und hoffen auf die nächste Überweisung. Das ist keine nachhaltige Wirtschaftsweise, sondern Krisenmanagement im Dauermodus.
Vor allem im Kleinst- und klassischen Mittelstand verschärft sich die Gefahr akuter Liquiditätsschwierigkeiten und drohender Zahlungsunfähigkeit dramatisch. Eine kritische, ja pessimistische Einschätzung der zukünftigen Insolvenz- und Liquiditätsrisiken ist daher nicht nur sachlich gerechtfertigt, sondern geboten. Das Rückgrat der deutschen Wirtschaft zeigt besorgniserregende Risse – und die nächste Belastungsprobe könnte für viele die letzte sein.
Quellen:
Der Mittelstand tilgt sich zu Tode
Neue Insolvenzwelle erfasst deutschen Mittelstand und Automobilbranche
Zahl der Firmenpleiten auf Höchststand
Datev-Index Mittelstand August 2025: Umsätze sinken – Chancen durch Effizienzstrategien