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Er führte die Deutsche Bank durch die stürmischen 1920er Jahre, orchestrierte die Fusion mit Daimler-Benz und schuf den damals größten Finanzkonzern der Welt. Doch Oscar Wassermann, einst Vorstandssprecher der mächtigsten Bank Deutschlands, verschwand aus dem kollektiven Gedächtnis. Warum geriet ein Mann, der das deutsche Bankwesen maßgeblich prägte, in Vergessenheit? Die Antwort liegt in den dunklen Jahren zwischen 1933 und 1934 – und im langen Schweigen danach.
Als Fritz Seidenzahl Ende der 1960er Jahre die Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Deutschen Bank vorbereitete, stellte er ehemaligen Mitarbeitern eine scheinbar einfache Frage: Könne man neben der Siemens- und Gwinner-Epoche auch von einer Wassermann-Epoche sprechen? Die Antworten fielen zurückhaltend aus. Niemand wollte Oscar Wassermann auf eine Stufe mit den Gründervätern Georg von Siemens und Arthur von Gwinner stellen. Ein bemerkenswertes Urteil über einen Mann, der die Deutsche Bank wie kaum ein anderer geprägt hatte.
Diese Diskrepanz zwischen historischer Bedeutung und kollektivem Vergessen war es, die den Historiker Avraham Barkai zu seiner Biografie über Wassermann bewegte. Denn die Frage, wie ein so einflussreicher Bankier in Vergessenheit geraten konnte, führt direkt ins Herz der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Aufstieg aus dem bayerischen Bürgertum
Oscar Wassermanns Geschichte beginnt im fränkischen Bamberg, wo seine Familie seit 1785 zunächst ein Handelshaus, später ein Bankhaus führte. Das 1880 von Angelo und Emil Wassermann gegründete Bankhaus A.E. Wassermann profitierte vom Wirtschaftsboom der Gründerzeit. Man finanzierte Brauereien und Hopfenhandel, die bayerische Textilindustrie, beteiligte sich an der Elektrifizierung und am Bahnbau in der Türkei. Ein typisches Beispiel jener jüdischen Privatbanken, die im 19. Jahrhundert das Rückgrat der deutschen Industriefinanzierung bildeten.
Als Erstgeborener Emil Wassermanns schien Oscar für die Nachfolge prädestiniert. Doch 1912 vollzog er einen überraschenden Schritt: Er wechselte in den Vorstand der Deutschen Bank – obwohl er als Teilhaber der florierenden Privatbank erheblich mehr verdiente. Es war eine Entscheidung für Einfluss statt Einkommen, für die große Bühne statt der regionalen Bedeutung.
Der Krisenmanager
Was folgte, war eine beispiellose Karriere. 1923 wurde Wassermann Vorstandssprecher der Deutschen Bank, ein Amt, das er zehn Jahre lang innehaben sollte – zehn Jahre, die zu den turbulentesten der deutschen Wirtschaftsgeschichte zählten. Die Hyperinflation, der Zusammenbruch des Stinnes-Imperiums, die Weltwirtschaftskrise – Wassermann navigierte die Bank weitgehend unbeschadet durch diese Katastrophen.
Sein größter Coup war die Übernahme des langjährigen Rivalen Disconto-Gesellschaft auf dem Höhepunkt der Bankenkrise. Die fusionierte DD-Bank war zu diesem Zeitpunkt die größte Bank der Welt. In seiner Rede vor der außerordentlichen Generalversammlung argumentierte Wassermann nüchtern mit Rationalisierung, Kosteneinsparung und gemeinsamer Werbung. Ein pragmatischer Ansatz, der die Bank rettete.
Dabei war Wassermann mehr als ein reiner Technokrat. Seine Philosophie des Bankwesens, die er 1925 auf dem Bankiertag formulierte, war ihrer Zeit voraus. Banken müssten nicht nur Sicherheiten fordern, sondern auch die Verwendung verliehener Gelder kontrollieren. Kurzfristige Kredite sollten in langfristige Investitionen umgewandelt werden, die technische Innovationen und Produktivitätssteigerungen ermöglichten. Eine Vision, die heute selbstverständlich klingt, damals aber revolutionär war.
Sein bekanntestes Engagement galt Daimler-Benz. Wassermann leitete die Fusion von Daimler und Benz in die Wege und rettete das Unternehmen durch die Automobilkrise von 1923⁄24. Als 1927 öffentlich über Verluste der Deutschen Bank spekuliert wurde, verteidigte er das Engagement mit Worten, die sein Selbstverständnis offenbaren: “Die Bereitschaft, Verluste zu riskieren, wenn es gilt, ein volkswirtschaftlich gesundes Unternehmen zu erhalten, gehört zu den ersten Tugenden einer Bank.”
Der doppelte Verrat
Doch Wassermanns Position war fragiler, als es nach außen schien. Sein jüdisches Engagement, besonders seine persönliche Bürgschaft für den Palästina-Aufbaufonds Keren Hajessod, wurde zur Achillesferse. Als der Fonds einen Kredit von 2,5 Millionen Reichsmark nicht zurückzahlen konnte, stand Wassermann persönlich in der Haftung – für Summen, die sein Jahresgehalt von 186.000 Reichsmark weit überstiegen.
Es waren nicht die Nationalsozialisten, die Wassermann zuerst zu Fall brachten – es waren Kollegen im eigenen Vorstand. Ehemalige Vorstandsmitglieder der übernommenen Disconto-Gesellschaft nutzten ab April 1933 sein zionistisches Engagement, um ihn aus dem Amt zu drängen. Man warf ihm vor, die Vorstandsmitglieder zu einer Selbständigkeit gezwungen zu haben, der diese nicht gewachsen waren. Als sich Wassermanns Gesundheitszustand verschlechterte, verkündete die Bank seinen Rücktritt – ohne sein Einverständnis.
Die offizielle Mitteilung vom 29. Mai 1933 war eine Farce. Man versprach Wassermann und seinem jüdischen Kollegen Theodor Frank die Wahl in den Aufsichtsrat, man versicherte, sie würden “durch Wahrnehmung der Interessen in einzelnen Aufsichtsräten mit der Bank in Verbindung” bleiben. Natürlich geschah nichts dergleichen. Wassermann, dessen Gesundheit ohnehin angeschlagen war, starb als gebrochener Mann am 8. September 1934 in Garmisch. Er wurde 59 Jahre alt.
Das organisierte Vergessen
Die Deutsche Bank hatte in der Nachkriegszeit kein Interesse an der Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit. Stattdessen wurde Hermann-Josef Abs zur Grauen Eminenz, jener Mann, der – wie neuere Studien zeigen – tief in die Machenschaften der NS-Regierung verstrickt war. Erst 1998, Jahre nach Abs’ Tod, gründete die Bank eine Historikerkommission.
Oscar Wassermanns Vergessenwerden war kein Zufall. Es war das Ergebnis eines Systems, das jüdische Leistungen systematisch auslöschte. Ein System, das nach 1945 von denselben Eliten fortgeführt wurde, die vom Schweigen profitierten.
Heute, da die Quellen spärlich und viele Akten verschwunden sind, erscheint Wassermanns Biografie wie ein Palimpsest – ein überschriebener Text, dessen ursprüngliche Zeilen man nur mühsam entziffern kann. Doch gerade deshalb bleibt sie von Bedeutung. Wassermann, so der Historiker Barkai, “personifiziert die Gruppe der Erben der Hofjuden und späteren Hoffaktoren, die im 19. und 20. Jahrhundert ein enges Netz zum Teil bedeutender Privat- und Großbanken über Deutschland und weite Teile Europas und Amerikas knüpften”.
Diese Banker waren keine Außenseiter, sondern integrale Bestandteile der deutschen Wirtschaftselite. Ihr Verschwinden aus der Geschichte ist kein historischer Unfall, sondern ein Akt der Auslöschung. Die Frage, die Fritz Seidenzahl in den 1960er Jahren stellte, bleibt aktuell: Kann man von einer Wassermann-Epoche sprechen? Die Antwort lautet ja – aber erst, wenn wir bereit sind, uns dem unbequemen Erbe zu stellen, das mit dieser Anerkennung einhergeht.
Quelle:
Oscar Wassermann und die Deutsche Bank

