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Prof. Christoph Becker warnt auf Linkedin vor einem drohenden Finanzmarktcrash, der den deutschen Mittelstand in die kollektive Illiquidität treiben könnte. Seine Forderung: Präventive Ausfallgarantien, bevor es zu spät ist. Doch wie ernst sollten wir diese Warnung nehmen – und was sagt sie über unsere ökonomische Gegenwart?
Es gibt Texte, die man nicht ignorieren kann, selbst wenn man sie gerne würde. Der Beitrag Systemkrise Mittelstand: Warum DSGV und BMF jetzt Ausfallgarantien vorbereiten müssen von Christoph Becker, Professor für Finanzmathematik und Stochastik an der Hochschule Darmstadt, über einen möglichen Finanzmarktcrash und seine Folgen für den deutschen Mittelstand gehört dazu. Nicht weil er spektakulär wäre – Crashprophezeiungen gibt es viele, und die meisten erweisen sich als Fehlalarm. Sondern weil Becker etwas tut, das in der ökonomischen Debatte selten geworden ist: Er denkt die Transmission von Finanzkrisen zu Ende, bis zur letzten Meile, bis zum mittelständischen Betrieb in der deutschen Provinz.
Die Anatomie eines Dominoeffekts
Beckers Argument ist in seiner Logik bestechend einfach: Ein globaler Finanzschock würde nicht isoliert an den Börsen bleiben, sondern sich über die Bankenbilanzen in die Realwirtschaft fressen. Das Fatale dabei: Es braucht keine böse Absicht, keine Verschwörung gegen den Mittelstand. Es genügt die rationale Risikovorsorge einzelner Banken, die in der Summe eine Katastrophe auslöst. Jede Bank, die ihre Kreditlinien kappt, handelt für sich genommen vernünftig. Kollektiv entsteht daraus eine selbsterfüllende Prophezeiung der Liquiditätskrise.
Die Northern-Rock-Analogie ist dabei mehr als ein historisches Ornament. Sie zeigt den Mechanismus des “sudden stop” in Reinform: Eine Bank, die fundamental nicht insolvent war, die solide Investitionen getätigt hatte, wurde zerquetscht zwischen kurzfristigen Verbindlichkeiten und ausbleibender Refinanzierung. Ersetze “Northern Rock” durch “deutscher Mittelstand”, so Becker, und das Szenario wird greifbar. Ein Mittelstand, der bereits unter Strukturkrise, Energiekosten und schwacher Konjunktur ächzt, würde einen externen Schock kaum verkraften – nicht wegen mangelnder Qualität seiner Produkte, sondern wegen fehlender Liquidität.
Das Problem der letzten Meile
Hier liegt die eigentliche Pointe von Beckers Analyse: Die Europäische Zentralbank kann Liquidität ins Bankensystem pumpen, so viel sie will. Aber sie kann nicht garantieren, dass dieses Geld auch beim Mittelständler in Schwaben, Franken oder Ostwestfalen ankommt. Diese letzte Meile liegt in der Hand der Sparkassen und Volksbanken – jener Institute, die am stärksten mit dem regionalen Mittelstand verwoben sind und daher im Krisenfall am meisten zu verlieren haben.
Das ist das bittere Paradox: Ausgerechnet jene Banken, die den Mittelstand am besten kennen und ihm am stärksten verbunden sind, wären im Ernstfall gezwungen, ihm die Kredite zu entziehen. Nicht aus Böswilligkeit, sondern aus regulatorischem Zwang zur Eigenkapitalerhaltung. Ein gestresster Mittelstand würde ihnen “förmlich auf die eigene Bilanz fallen”, wie Becker schreibt – ein Risiko, das sie nicht tragen können.
Die Frage nach der Wahrscheinlichkeit
Nun könnte man einwenden: Alles Spekulation. Wo ist der Crash? Wo die Evidenz? Und ist es nicht gefährlich, solche Szenarien öffentlich zu diskutieren, weil sie die Krise erst heraufbeschwören könnten?
Becker antizipiert diesen Einwand elegant, indem er die Beweislast umkehrt: Es genüge zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit “deutlich größer als Null” sei. Bei einem potentiellen Schaden dieser Größenordnung rechtfertige bereits eine moderate Wahrscheinlichkeit präventive Maßnahmen. Das ist keine Panikmache, sondern Risikotheorie. Wer ein Haus gegen Brand versichert, prophezeit damit keinen Großbrand – er handelt nur klug.
Die eigentliche Vulnerabilität liegt ohnehin weniger im hypothetischen Finanzcrash als in der realen, schleichenden Erosion der Mittelstandssubstanz. Die Insolvenzzahlen steigen bereits. Die Erträge sinken. Die Investitionen stagnieren. Ein externer Schock würde auf ein System treffen, das bereits am Limit operiert. Insofern ist Beckers Szenario weniger Spekulation über die Zukunft als Extrapolation der Gegenwart unter verschärften Bedingungen.
Die Politik der Vorsorge
Beckers konkreter Vorschlag – präventive Ausfallgarantien, koordiniert zwischen Bankenverbänden und Finanzministerium – ist pragmatisch gedacht. Er verlangt keine revolutionären Maßnahmen, sondern die Vorbereitung bekannter Instrumente. 2008 und 2020 haben gezeigt, dass Staaten im Ernstfall handlungsfähig sein können. Aber beide Male erfolgte das Handeln reaktiv, im Krisenmodus, unter Zeitdruck. Becker fordert, diese Instrumente zu aktualisieren und bereitzuhalten, bevor der Stress akut wird.
Das klingt vernünftig, birgt aber Komplexität: Wie gestaltet man Garantien so, dass sie im Ernstfall schnell wirken, ohne permanente Fehlanreize zu schaffen? Wie vermeidet man Moral Hazard, ohne die Wirksamkeit zu opfern? Und wie navigiert man das Spannungsfeld zwischen nationalem Handlungsbedarf und europäischem Beihilferecht?
Diese Fragen sind nicht trivial. Aber sie sind auch kein Grund, nichts zu tun. Im Gegenteil: Sie sind ein Grund, jetzt zu beginnen – in der relativen Ruhe vor dem möglichen Sturm. Die Abstimmung zwischen BVR, DSGV und BMF, die Becker fordert, sollte nicht als Alarmismus verstanden werden, sondern als strategische Resilienzplanung.
Was der Text wirklich sagt
Bei aller Sachlichkeit seiner Analyse lässt sich zwischen den Zeilen von Beckers Beitrag eine tiefere Frustration erahnen: Die Frustration darüber, dass in der deutschen Wirtschaftspolitik die präventive Vorsorge chronisch unterentwickelt ist. Wir sind gut im Reagieren, im Krisenmanagement ad hoc. Aber die systematische Vorbereitung auf plausible Worst-Case-Szenarien – das fällt schwer. Vielleicht weil es unsexy ist, in guten Zeiten über schlechte zu reden. Vielleicht weil es politisch riskant scheint, Ängste zu thematisieren. Vielleicht auch nur, weil die Tagespolitik keinen Raum für strategisches Denken lässt.
Beckers Schlussbemerkung – “es ist nicht die Zeit für Scherze” – klingt fast altmodisch ernst in einer Zeit, in der ökonomische Debatten oft zwischen Ideologie und Ironie oszillieren. Aber vielleicht ist genau dieser Ernst angebracht. Nicht als moralische Pose, sondern als Anerkennung der Tatsache, dass hinter jedem abstrakten “Mittelstand” konkrete Arbeitsplätze, Familienexistenzen und regionale Strukturen stehen.
Eine Warnung oder ein Denkanstoß?
Ist Beckers Text also eine Warnung? Ja, aber keine apokalyptische. Ist er ein Aufruf zum Handeln? Definitiv. Ist er übertrieben? Das kommt darauf an, was man unter “übertrieben” versteht. Wenn damit gemeint ist, dass er ein Worst-Case-Szenario durchspielt – dann ja, natürlich tut er das. Aber genau das ist die Aufgabe von Risikoanalyse.
Was den Text wertvoll macht, ist nicht die Vorhersage eines Crashs, sondern die Offenlegung struktureller Fragilität. Er zeigt, wie verwundbar der deutsche Mittelstand in seiner Abhängigkeit von Bankkrediten ist, wie begrenzt die Transmissionsfähigkeit der Geldpolitik zur “letzten Meile” funktioniert, und wie schnell rationales Einzelverhalten zu kollektivem Desaster werden kann.
In diesem Sinne ist Beckers Beitrag weniger Kassandraruf als Klugheit. Er erinnert daran, dass wirtschaftliche Resilienz nicht von allein entsteht, sondern vorbereitet werden muss. Und dass die Zeit dafür nicht dann ist, wenn die Krise da ist, sondern davor. Wobei man hinzufügen muss, dass der Mittelstand ohnehin schon am Limit ist.
Ob der Crash kommt oder nicht – wir wissen es nicht. Aber dass wir besser vorbereitet sein sollten – das wissen wir jetzt.