Getting your Trinity Audio player ready...
|
Was haben ein Schweizer Wirtschaftshistoriker aus den 1990ern und moderne Banking-Strategien gemeinsam? Mehr als man denkt. Hansjörg Siegenthalers Theorie des Regelvertrauens und das zeitgenössische Bankstil-Framework offenbaren verblüffende Parallelen in ihrem Verständnis von institutionellem Wandel. Beide erkennen: Erfolgreiche Transformation braucht nicht nur neue Technologien, sondern vor allem eines – Vertrauen in den Prozess des Wandels selbst.
Die überraschende Aktualität alter Weisheiten
Wer heute über die Zukunft des Banking nachdenkt, blickt meist nach vorn: FinTech-Disruption, Digitalisierung, Kundenerwartungen im Wandel. Selten richtet sich der Blick zurück zu den Grundlagen institutionellen Wandels. Dabei könnte gerade dort der Schlüssel für nachhaltigen Erfolg liegen.
Hansjörg Siegenthalers 1993 erschienenes Werk „Regelvertrauen, Prosperität und Krisen” beschäftigt sich mit einer zeitlosen Frage: Warum durchlaufen Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder Zyklen von Aufschwung und Niedergang? Seine Antwort ist ebenso elegant wie weitreichend: Es liegt am Vertrauen in die Regeln des Spiels.
Zwanzig Jahre später beginnen die Arbeiten am Bankstil-Framework – ein Kompass für Finanzinstitute im digitalen Wandel. Oberflächlich betrachtet könnten die Welten nicht unterschiedlicher sein: doch bei genauerer Betrachtung offenbaren sich faszinierende Parallelen.
Das Fundament allen Wandels: Vertrauen als gemeinsamer Nenner
Beide Ansätze erkennen eine fundamentale Wahrheit: Institutioneller Wandel funktioniert nur dann nachhaltig, wenn die Beteiligten Vertrauen in den Prozess entwickeln. Siegenthalers „Regelvertrauen” beschreibt das Vertrauen der Menschen in gesellschaftliche und wirtschaftliche Spielregeln. Ohne dieses Vertrauen bricht das System zusammen – mit ihm entstehen Prosperität und Innovation.
Das Bankstil-Framework operiert mit einem ähnlichen Grundverständnis, auch wenn es andere Begriffe verwendet. Die „gestaltbaren internen Faktoren” – Führungskultur, Prozesse und Strukturen – sind nichts anderes als die modernen Äquivalente zu Siegenthalers Regelvertrauen. Eine Bank kann nur dann erfolgreich transformieren, wenn ihre Mitarbeiter, Kunden und Stakeholder Vertrauen in die neue Richtung entwickeln.
Die Anatomie des Wandels: Zyklen statt linearer Fortschritt
Beiden Ansätzen ist gemein, dass sie Entwicklung nicht als geraden Weg verstehen, sondern als zyklischen Prozess. Siegenthaler beschreibt die „Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung” – Phasen der Prosperität wechseln sich mit Krisenzeiten ab, in denen alte Regeln hinterfragt und neue etabliert werden.
Das Bankstil-Framework spiegelt diese Erkenntnis in seinem Drei-Phasen-Modell wider: traditioneller Stil, Übergangsstil, neuer Originalstil. Auch hier ist Entwicklung kein einmaliger Sprung, sondern ein Prozess des Übergangs, in dem Altes und Neues miteinander ringen.
Der entscheidende Punkt: Beide Ansätze verstehen Krisen nicht als Katastrophen, sondern als notwendige Transformationsmomente. Siegenthaler spricht von „Anpassungsprozessen und institutionellen Veränderungen”, die erst möglich werden, wenn das bestehende Regelvertrauen erschüttert wird. Das Bankstil-Framework sieht Disruption ähnlich: als Chance zur Neufindung des eigenen „Originalstils”.
Individuelles Handeln in kollektiven Strukturen
Ein weiterer faszinierender Berührungspunkt liegt im Verständnis der Rolle individueller Akteure. Siegenthaler betont, dass wirtschaftliche Entwicklung das „Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens” ist. Einzelne Entscheidungen summieren sich zu kollektiven Trends, aber immer eingebettet in soziale Strukturen und gemeinsame Lernprozesse.
Das Bankstil-Framework vertritt eine ähnliche Philosophie: Jede Bank soll ihren individuellen „Originalstil” entwickeln, aber dieser entsteht nicht im luftleeren Raum. Er ist das Produkt aus internen Gestaltungsmöglichkeiten und externen Rahmenbedingungen, aus bewussten strategischen Entscheidungen und kollektiven Lernprozessen im Markt.
Diese Perspektive ist befreiend und realistisch zugleich. Sie erkennt die Gestaltungsmacht einzelner Institutionen an, ohne zu übersehen, dass sie Teil größerer Systeme sind.
Der Kontext entscheidet: Keine universellen Lösungen
Beide Ansätze warnen vor dem Glauben an universelle Lösungen. Siegenthalers historische Analyse zeigt: Verschiedene Gesellschaften entwickeln zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Formen des Regelvertrauens. Was in einem Kontext funktioniert, kann in einem anderen scheitern.
Das Bankstil-Framework macht diese Erkenntnis zu seinem Kern: „Es gibt nicht den einen richtigen Weg, den einen Stil für alle Banken.” Eine bayerische Sparkasse braucht andere Strategien als eine Hamburger Privatbank. Beide können erfolgreich sein – wenn sie authentisch zu ihrer jeweiligen Situation passen.
Diese kontextuelle Sensibilität ist in Zeiten standardisierter Digitalisierungsstrategien und einheitlicher Compliance-Anforderungen besonders wertvoll. Sie erinnert daran, dass nachhaltiger Erfolg nicht durch das Kopieren vermeintlich bester Praktiken entsteht, sondern durch die Entwicklung passender Lösungen.
Soziales Lernen als Schlüssel zur Transformation
Vielleicht die tiefste Gemeinsamkeit liegt im Verständnis von Transformation als kollektivem Lernprozess. Siegenthaler spricht von „sozialem Lernen” als dem Mechanismus, durch den neue Regelstrukturen entstehen und sich durchsetzen. Nicht einzelne geniale Entscheidungen treiben den Wandel voran, sondern die Fähigkeit von Gemeinschaften, aus Erfahrungen zu lernen und neue Handlungsweisen zu entwickeln.
Das Bankstil-Framework überträgt diese Erkenntnis in die Praxis: Die sieben Dimensionen funktionieren am besten als „Gesprächsleitfaden für Führungsteams”. Nicht die technische Messung ist entscheidend, sondern der Prozess des gemeinsamen Nachdenkens über Ziele, Prioritäten und Meinungsunterschiede.
Beide Ansätze erkennen: Erfolgreiche Transformation ist immer auch ein kommunikativer und sozialer Prozess. Die besten Strategien nutzen nichts, wenn sie nicht von den Beteiligten verstanden, akzeptiert und mitgetragen werden.
Die Zeit als Verbündeter, nicht als Feind
In einer Welt, die von „Disruption” und „exponentiellen Veränderungen” spricht, betonen beide Ansätze eine oft übersehene Dimension: Zeit. Regelvertrauen entsteht nicht über Nacht, sondern durch wiederholte positive Erfahrungen. Authentische Stilentwicklung ist ein kontinuierlicher Prozess, kein einmaliges Ereignis.
Diese Zeitperspektive ist befreiend für Führungskräfte, die unter dem Druck stehen, sofortige Transformationserfolge zu liefern. Beide Ansätze legitimieren geduldige Entwicklungsarbeit und warnen vor den Risiken überhasteter Veränderungen.
Gleichzeitig machen sie deutlich: Warten ist keine Option. Sowohl Regelvertrauen als auch Bankstil müssen kontinuierlich gepflegt und weiterentwickelt werden. Stillstand führt zur Erosion – in beide Richtungen.
Synthesepotenziale: Was Banking von der Geschichte lernen kann
Die Verbindung beider Ansätze eröffnet neue Perspektiven für die Banking-Strategie. Das Bankstil-Framework könnte von Siegenthalers Erkenntnissen profitieren, indem es Vertrauen expliziter als strategischen Faktor berücksichtigt. Wie baut eine Bank während der Transformation Vertrauen bei Mitarbeitern und Kunden auf? Wie geht sie mit dem unvermeidlichen Vertrauensverlust in Übergangsphasen um?
Umgekehrt könnte Siegenthalers Theorie durch die praktischen Werkzeuge des Bankstil-Frameworks an Anwendbarkeit gewinnen. Die sieben Dimensionen könnten als Operationalisierung des abstrakten Konzepts des Regelvertrauens dienen.
Die paradoxe Wahrheit erfolgreicher Transformation
Am Ende offenbaren beide Ansätze eine paradoxe Wahrheit: Erfolgreicher Wandel braucht Kontinuität. Das klingt widersprüchlich, ist aber die Essenz nachhaltiger Transformation. Siegenthalers „neues” Regelvertrauen baut immer auf Elementen des alten auf. Das Bankstil-Framework betont, dass „Originalstil” nicht „digital first”, sondern „authentisch zu uns passend” bedeutet.
Diese Erkenntnis ist befreiend für eine Branche, die sich oft zwischen radikaler Disruption und ängstlichem Beharren hin- und hergerissen fühlt. Der Weg liegt nicht in extremer Veränderung oder starrem Festhalten, sondern in der intelligenten Weiterentwicklung bestehender Stärken.
Ein Kompass für die Zukunft
Die Synthese aus Siegenthalers historischer Weisheit und dem Bankstil-Framework bietet mehr als nur theoretische Erkenntnis. Sie liefert einen praktischen Kompass für Führungskräfte, die ihre Institutionen durch unsichere Zeiten steuern müssen
Die wichtigste Lektion: Vertrauen Sie dem Prozess – aber gestalten Sie ihn bewusst. Entwickeln Sie Ihren eigenen Weg – aber lernen Sie von anderen. Seien Sie geduldig mit der Zeit – aber nutzen Sie sie aktiv.
In einer Welt exponentieller Veränderungen mag dieser Ansatz altmodisch wirken. Doch vielleicht ist gerade das seine Stärke: Er erinnert daran, dass manche Wahrheiten über menschliche Institutionen zeitlos sind – und dass die erfolgreichsten Transformationen oft die sind, die am tiefsten in bewährten Prinzipien verwurzelt sind.
Die Zukunft des Banking wird nicht von denen geschrieben, die am radikalsten brechen, sondern von denen, die am geschicktesten verbinden – Tradition mit Innovation, Stabilität mit Wandel, Regelvertrauen mit Veränderungsbereitschaft. Siegenthaler und das Bankstil-Framework zeigen den Weg.