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In einer Zeit, als die Welt­wirt­schaft von Kri­se zu Kri­se tau­mel­te, gab es einen Mann, der die Kata­stro­phen kom­men sah, bevor sie ein­tra­ten. Felix Soma­ry, der „Rabe von Zürich”, wur­de zur Legen­de – nicht trotz sei­ner düs­te­ren Pro­gno­sen, son­dern wegen ihrer erschre­cken­den Prä­zi­si­on. Sei­ne Geschich­te ist die eines Visio­närs, der in den Wir­ren des 20. Jahr­hun­derts zum wich­tigs­ten Mah­ner sei­ner Zeit wurde.

Es gibt Men­schen, die Geschich­te schrei­ben, und sol­che, die sie vor­aus­se­hen. Felix Soma­ry gehör­te zur zwei­ten Kate­go­rie – und viel­leicht war das sein Ver­häng­nis und sei­ne Grö­ße zugleich. Der 1881 in Wien gebo­re­ne Sohn eines ange­se­he­nen Rechts­an­walts soll­te zu einer der fas­zi­nie­rends­ten Gestal­ten der euro­päi­schen Finanz­welt wer­den, einem Mann, des­sen Name heu­te noch mit einer Mischung aus Respekt und leich­tem Schau­dern aus­ge­spro­chen wird.

Die For­mung eines Analytikers

Die intel­lek­tu­el­len Grund­la­gen für Soma­rys spä­te­re Bril­lanz wur­den bereits in sei­nen Wie­ner Stu­di­en­jah­ren gelegt. An der Uni­ver­si­tät Wien stu­dier­te er Rechts- und Staats­wis­sen­schaf­ten unter Carl Men­ger, einem der Begrün­der der öster­rei­chi­schen Schu­le der Natio­nal­öko­no­mie. Doch es waren sei­ne Kom­mi­li­to­nen, die sei­nen Geist schärf­ten: Joseph Schum­pe­ter, der spä­te­re Theo­re­ti­ker der „schöp­fe­ri­schen Zer­stö­rung”, und Otto Bau­er, der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Den­ker. Die­se Kon­stel­la­ti­on war kein Zufall – sie form­te einen Mann, der sowohl die Mecha­nis­men des Kapi­ta­lis­mus als auch deren gesell­schaft­li­che Aus­wir­kun­gen verstand.

Der Ers­te Welt­krieg wur­de zu Soma­rys ers­ter gro­ßer Bewäh­rungs­pro­be. Als Poli­tik- und Wirt­schafts­be­ra­ter der Mit­tel­mäch­te erkann­te er früh die stra­te­gi­sche Fehl­ein­schät­zung des unein­ge­schränk­ten U‑Boot-Krie­ges. Sei­ne War­nun­gen ver­hall­ten unge­hört – ein Mus­ter, das sich durch sein gan­zes Leben zie­hen soll­te. Doch aus die­ser Erfah­rung erwuchs sei­ne Über­zeu­gung: Wer die Wirt­schaft ver­steht, ver­steht die Poli­tik. Wer bei­de durch­schaut, kann die Zukunft erahnen.

Der Exodus nach Zürich

Nach dem Zusam­men­bruch der Donau­mon­ar­chie zog es Soma­ry in die Schweiz, wo er die Pri­vat­bank Blan­k­art & Cie. lei­te­te. Zürich wur­de zu sei­nem Obser­va­to­ri­um für die Welt­wirt­schaft. Von hier aus beob­ach­te­te er die infla­tio­nä­re Nach­kriegs­zeit, die gol­de­nen Zwan­zi­ger und deren jähen Zusam­men­bruch. Sei­ne Ana­ly­sen gewan­nen an Schär­fe, sei­ne Pro­gno­sen an Prä­zi­si­on – und sei­ne Repu­ta­ti­on an einer düs­te­ren Note, die ihm den Bei­na­men „Rabe von Zürich” einbrachte.

Doch Soma­rys Pes­si­mis­mus war nie Selbst­zweck. Er war das Ergeb­nis einer metho­di­schen Ana­ly­se, die struk­tu­rel­le Schwä­chen erkann­te, wo ande­re nur Ober­flä­chen­phä­no­me­ne sahen. Wenn er vor dem Bör­sen­crash von 1929 warn­te, dann nicht aus Schwarz­ma­le­rei, son­dern aus der nüch­ter­nen Erkennt­nis über­hitz­ter Märk­te. Wenn er die Abwer­tung des bri­ti­schen Pfun­des vor­her­sag­te oder den Zusam­men­bruch des Streich­holz­ma­gna­ten Kreu­ger, dann auf Basis fun­da­men­ta­ler wirt­schaft­li­cher Ungleichgewichte.

Die Kunst der Prognose

Was mach­te Soma­ry zu einem der­art prä­zi­sen Pro­phe­ten? Es war sei­ne Fähig­keit, über den Tel­ler­rand der rei­nen Öko­no­mie hin­aus­zu­bli­cken. Wäh­rend sei­ne Zeit­ge­nos­sen in Zah­len und Model­len dach­ten, betrach­te­te er Gesell­schaf­ten, Men­ta­li­tä­ten und poli­ti­sche Dyna­mi­ken. Er ver­stand, dass Märk­te nicht nur von ratio­na­len Akteu­ren bewegt wer­den, son­dern von mensch­li­chen Lei­den­schaf­ten – Gier, Angst, Hoff­nung und Verzweiflung.

Sei­ne Metho­de war dabei von einer fast wis­sen­schaft­li­chen Stren­ge geprägt. Mit Wer­ken wie „Ban­ken­po­li­tik” setz­te er theo­re­ti­sche Stan­dards für sei­ne Zunft und bewies, dass prä­zi­se Ana­ly­se und prak­ti­sche Anwen­dung kei­ne Gegen­sät­ze sein muss­ten. Soma­ry war Wis­sen­schaft­ler und Prak­ti­ker zugleich – eine Kom­bi­na­ti­on, die in der Finanz­welt sel­ten und umso wert­vol­ler ist.

Kri­sen­ma­na­ger und Staatsdiener

Der Zwei­te Welt­krieg offen­bar­te eine wei­te­re Facet­te von Soma­rys Genia­li­tät: sei­ne Fähig­keit, in Extrem­si­tua­tio­nen zu navi­gie­ren. Als Bera­ter sicher­te er die Roh­stoff­ver­sor­gung der Schweiz und wur­de gleich­zei­tig Bera­ter der US-Regie­rung und der öster­rei­chi­schen Exil­re­gie­rung. Die­se schein­bar wider­sprüch­li­chen Rol­len zei­gen einen Mann, der über natio­na­le Gren­zen hin­aus­dach­te und des­sen Loya­li­tät der wirt­schaft­li­chen Ver­nunft galt.

Sei­ne Auto­bio­gra­fie „Erin­ne­run­gen aus mei­nem Leben”, post­hum neu auf­ge­legt, wur­de zu einem zen­tra­len Doku­ment euro­päi­scher Wirt­schafts- und Ban­ken­ge­schich­te. Sie zeigt einen Men­schen, der nicht nur Zeu­ge der gro­ßen Umbrü­che sei­ner Zeit war, son­dern deren tie­fe­re Logik ver­stan­den hatte.

Das Ver­mächt­nis eines Sehers

Felix Soma­ry starb als einer der prä­zi­ses­ten Ana­lys­ten und Pro­gnos­ti­ker von Wirt­schafts­kri­sen des 20. Jahr­hun­derts. Doch sein wah­res Ver­mächt­nis liegt nicht in den kor­rek­ten Vor­her­sa­gen, son­dern in der Metho­de: der Ver­bin­dung von öko­no­mi­scher Ana­ly­se mit gesell­schaft­li­chem Ver­ständ­nis, von theo­re­ti­scher Tie­fe mit prak­ti­scher Anwendung.

In einer Zeit, da Finanz­märk­te immer kom­ple­xer und glo­ba­ler wer­den, erschei­nen Soma­rys War­nun­gen vor Finanz- und Wäh­rungs­kri­sen aktu­el­ler denn je. Der „Rabe von Zürich” mag ver­stummt sein, aber sein wach­sa­mer Blick auf die Wider­sprü­che und Ver­wer­fun­gen des Wirt­schafts­sys­tems hallt nach – als Mah­nung an eine Welt, die all­zu oft erst aus Kata­stro­phen lernt.

Soma­ry bewies: Wer die Zei­chen der Zeit zu deu­ten weiß, kann nicht nur die Ver­gan­gen­heit ver­ste­hen, son­dern auch die Zukunft erah­nen. Dass sei­ne Zeit­ge­nos­sen ihn als Raben bezeich­ne­ten, war viel­leicht kein Tadel, son­dern eine unbe­wuss­te Aner­ken­nung sei­ner Rol­le als War­ner und Seher in einer Zeit, die drin­gend bei­de benötigte.


Zita­te von Felix Somary

Zur Sit­zung des Orient­bah­nen­aus­schus­ses im Wie­ner Bank­ver­ein kam der Lei­ter des Syn­di­kats, Direk­tor Gwin­ner von der Deut­schen Bank in Ber­lin. Wäh­rend der Bespre­chun­gen wur­den die Wie­ner Bör­sen­kur­se her­ein­ge­bracht; Gwin­ner warf einen Blick dar­auf und sag­te: “Die­se Nar­ren, da stei­gen die Orient­bahn­ak­ti­en ‑ wir haben noch sel­ten ein schlech­te­res Jahr gehabt”. Kaum hat­te er die Sit­zung ver­las­sen, gaben die öster­rei­chi­schen Syn­di­kats­mit­glie­der Auf­trag zum Ver­kauf eines Teils ihrer Pake­te. Eini­ge Mona­te spä­ter kam die Bilanz­sit­zung mit wesent­lich gestei­ger­tem Ertrag und opti­mis­ti­schem Geschäfts­be­richt; die von den öster­rei­chi­schen Syn­di­ka­t­ä­ren abge­wor­fe­nen Stü­cke waren von der Deut­schen Bank gekauft wor­den. Mora­witz ver­stand mei­ne Auf­re­gung nicht. “Geschieht uns ganz recht, wenn wir auf einen Bluff her­ein­fal­len”. – “Aber das ist Betrug an den Part­nern”. – “Sie Kind, macht es dem Jäger nicht mehr Freu­de, einen erfah­re­nen Bären zu schie­ßen als einen jun­gen Hasen?. Ver­ste­hen Sie das nicht?” – “Nein, das wer­de ich nie ver­ste­hen. Es ist nicht nur unfair, es ist dumm” – “War­um?” – “Weil es das Ver­trau­en der Grup­pe rui­niert. Der Kauf­mann hat heu­te mit dem Zeit­geist zu kämp­fen, er muss das vol­le Ver­trau­en zur höchs­ten Ehren­haf­tik­geit sei­ner Berufs­ge­nos­sen haben, wenn er sich oben hal­ten will”. – Sie mögen damit recht haben. Ich las­se ja, wie Sie wis­sen, alle mei­ne Part­ner und mei­ne Aktio­nä­re mit mir ver­die­nen und ste­he damit allein. Unse­re Indus­tri­el­len benüt­zen ihre früh­zei­ti­gen Kennt­nis­se dazu, ihre eige­nen Aktio­nä­re im geeig­ne­ten Moment aus­zu­rau­ben. Das gehört zur Rou­ti­ne, in Ber­lin und Paris, aber beson­ders hier in Buda­pest. Viel­leicht rächt es sich eines Tages. Aber ver­die­nen die Men­schen, mit denen wir zu tun haben, bes­se­re Behand­lung? In einem von zehn Fäl­len ver­lie­ren unse­re Kli­en­ten durch mei­nen Rat, und das tra­gen Sie mit ihr Leben lang nach; in neun Fäl­len ver­die­nen sie – und haben es am nächs­ten Tag vergessen. …

Wo immer ich hin­kam, habe ich neben Unter­neh­mern und Aka­de­mi­kern auch Land­wir­te und Arbei­ter und deren poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Orga­ni­sa­ti­on auf­ge­sucht. Was ein schwei­ze­ri­scher Ban­kier denkt, glau­be ich zu wis­sen, ohne ihn spre­chen zu müs­sen. Dar­um ist mir in jedem Land ein Bau­ern­tag inter­es­san­ter als ein Ban­kier­tag. Dar­in liegt nicht eine Gering­schät­zung mei­nes Beru­fes, den ich für einen der wich­tigs­ten in der gan­zen Wirt­schaft hal­te. Aber ich suche nach Büro­schluss nicht die Bestä­ti­gung mei­ner Gedan­ken durch ande­re, son­dern die Erwei­te­rung mei­nes Gesichts­krei­ses, um mir eine Vor­stel­lung von dem Gesamt­in­ter­es­se zu machen, die von der eige­nen Posi­ti­on völ­lig unab­hän­gig ist. … 

Im Jah­re 1909 hielt der Ver­ein für Sozi­al­po­li­tik sei­ne Tagung in Wien mit den The­men “Pro­duk­ti­vi­tät” und “Geld­wert”; hier kam es zu Mei­nungs­ge­gen­sät­zen zwi­schen Phil­ip­po­vich und Max Weber, zwi­schen Wie­ser und Knapp. Kaum jemals stan­den in einer kon­ti­nen­ta­len Dis­kus­si­on Öko­no­men von sol­chen Namen gegen­über, und nie­mals war in einer kri­ti­schen Stun­de das Ergeb­nis so kata­stro­phal. Denn Max Weber ver­warf den Pro­duk­ti­vi­täts- und Knapp den Geldbegriff.

Max Weber wand­te sich wohl gegen das Her­ein­tra­gen ethi­scher Momen­te in die Öko­no­mie – aber dar­um han­del­te es sich nicht in die­sem Augen­blick; gera­de im Moment unmit­tel­ba­rer Kriegs­vor­be­rei­tung war es für die Wirt­schaft nicht gleich­gül­tig, ob Kano­nen oder Pflü­ge pro­du­ziert würden.

Knapp aber leug­ne­te gar den Begriff des Geld­wer­tes; denn das Geld gehe ja von Hand zu Hand, jeder kön­ne es sofort weitergeben.

Fünf Jah­re vor Aus­bruch der Welt­kriegs­ära haben zwei der größ­ten Gelehr­ten, denen die Wis­sen­schaft vie­les ver­dankt, den Staa­ten einen Frei­brief gege­ben für illu­mi­nier­te Kriegs­pro­duk­ti­on und Geld­be­schaf­fung. Denn im Pro­duk­ti­vi­täts­be­griff und in der Basie­rung des Gel­des auf Gold lie­gen die Gren­zen für die Regie­rung. Bei­de Gelehr­te waren sich der Fol­gen ihrer Dok­trin nicht bewusst, und das öko­no­mi­sche Unheil, das dann kam, war nicht ihnen zuzu­schrei­ben. Aber sie haben – unab­sicht­lich – die theo­re­ti­sche Öko­no­mie gera­de im wich­tigs­ten Zeit­punkt um allen Ein­fluss gebracht. ..

Von die­ser Tagung an gal­ten in Deutsch­land und Öster­reich die Anhän­ger der Gold­wäh­rung als mit­tel­al­ter­li­che, aber­gläu­bi­sche Idio­ten, in bedau­erns­wer­ter Ver­tei­di­gungs­stel­lung. Zu Anfang des 18. Jahr­hun­derts war der theo­re­ti­sche Infla­tio­nis­mus nach einer Kriegs­ära erschie­nen, dies­mal ging er ihr voraus.

Ich wie­der­ho­le: Kei­ner der bei­den Män­ner, Per­sön­lich­kei­ten von höchs­tem wis­sen­schaft­li­chen Wuchs und Cha­rak­ter, dach­te an Krieg, noch erwähn­te ihn sonst jemand in der Ver­samm­lung. Ich bil­de mir ein, dass ich der ein­zi­ge war, der dar­an dach­te. Und wie vie­le, wenn auf Krieg hin ange­spro­chen wor­den wären, hät­ten damals geant­wor­tet: “Was hat das mit Pro­duk­ti­vi­tät oder Geld­wert zu tun?. … 

Keynes frag­te mich, wel­che Hal­tung ich mei­nen Kli­en­ten emp­feh­le: “Sich von der kom­men­den Kri­se so weit wie mög­lich fern­zu­hal­ten und den Markt zu mei­den”, ant­wor­te­te ich. Keynes war ent­ge­gen­ge­setz­ter Mei­nung: “Es kommt kei­ne Kri­se mehr in unse­rer Zeit”, insis­tier­te er, und er frag­te mich ein­ge­hend nach mei­ner Beur­tei­lung ein­zel­ner Gesell­schaf­ten. “Ich hal­te den Markt für sehr inter­es­sant und die Prei­se für nied­rig”, sag­te Keynes. “Von woher soll denn eine Kri­se kom­men?” – “Vom Unter­schied zwi­schen Schein und Wirk­lich­keit. Ich habe noch nie so schwe­re Unwet­ter her­auf­zie­hen gese­hen”, ant­wor­te­te ich. Effek­ten­spe­ku­la­ti­on schien ihn lei­den­schaft­lich zu inter­es­sie­ren, und er wie­der­hol­te trotz mei­ner deut­li­chen Abwei­sung immer wie­der die Fra­ge, was man auf dem Kon­ti­nent kau­fen solle. … 

Mir kam es klar zum Bewusst­sein, wie furcht­bar die poli­ti­sche Öko­no­mie gelit­ten hat­te, seit­dem sie von einem Zweig der Staats­kunst zu einer blo­ßen Schul­weis­heit hin­ab­ge­glit­ten ist. Was bedeu­te­ten einst Bodin und Sul­ly für Frank­reich, wie tief wirk­ten Adam Smith und Tur­got. Aber die bra­ven Schul­meis­ter, .., spür­ten kei­nen Hauch von dem Sturm, der da her­an­braus­te. Man erhitz­te sich in Detail­fra­gen, die Welt­la­ge inter­es­sier­te nicht. Auch am Abend in mei­nem Hau­se waren Her­kner, Som­bart, Emil Lede­rer sich dar­in einig, dass eine Kri­se nicht in Sicht sei – sei­en doch die Waren­prei­se über­haupt nicht gestie­gen. .. Es waren hier Ver­tre­ter von min­des­tens einem Dut­zend Kon­junk­tur­theo­rien anwe­send, aber kei­ner ahn­te das nahe Kom­men der größ­ten Kri­se unse­rer Generation.

Quel­le: Erin­ne­run­gen aus mei­nem Leben


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