Getting your Trinity Audio player ready...

Regio­na­le Ver­si­che­rer prä­sen­tie­ren sich ihren Kun­den als ver­läss­li­che Part­ner vor Ort. Sie wer­ben mit Rück­zah­lun­gen, Kun­den­nä­he und Soli­da­ri­tät. Die­ser Bei­trag unter­sucht, wel­che Span­nun­gen zwi­schen dem exter­nen Ver­spre­chen und inter­nen Struk­tu­ren ent­ste­hen und wie zwei gro­ße Kata­stro­phen­er­eig­nis­se die­se Bruch­stel­len sicht­bar machten.


Die Vor­der­sei­te: Rück­zah­lungs­mo­del­le im kri­ti­schen Blick

Regio­na­le Ver­si­che­rer nut­zen Bei­trags­rück­erstat­tun­gen als Mar­ke­ting­in­stru­ment. Am Jah­res­en­de wer­den Rück­zah­lun­gen ange­kün­digt, die als Beleg für Kun­den­nä­he und Soli­da­ri­tät prä­sen­tiert wer­den. Ver­brau­cher­schüt­zer und Ver­si­che­rungs­exper­ten kri­ti­sie­ren die­ses Modell regel­mä­ßig in ihren Stellungnahmen.

Die Kri­tik basiert auf fol­gen­der Beob­ach­tung: Ver­si­che­rer erhö­hen ihre Prä­mi­en regel­mä­ßig – oft jähr­lich oder in Abstän­den – mit Begrün­dun­gen wie gestie­ge­ne Scha­den­auf­wän­de, höhe­re Ver­wal­tungs­kos­ten oder all­ge­mei­ne Kos­ten­stei­ge­run­gen. Nach­ge­la­ger­te Rück­zah­lun­gen fal­len typi­scher­wei­se deut­lich gerin­ger aus als die vor­he­ri­gen Erhöhungen.

Ver­brau­cher­schüt­zer und Ver­si­che­rungs­ana­lys­ten wei­sen dar­auf hin, dass sich das Modell kal­ku­la­to­risch für Ver­si­che­rungs­un­ter­neh­men vor­teil­haft aus­wirkt, wäh­rend die Wir­kung für Ver­si­cher­te empi­risch als “neu­tral bis unbe­deu­tend” bewer­tet wird. Der Grund: Der abso­lu­te Bei­trag der Ver­si­cher­ten wächst kon­ti­nu­ier­lich, wäh­rend Rück­zah­lun­gen bilan­zi­ell gerin­ge­res Gewicht haben.

Hin­zu kommt eine struk­tu­rel­le Asym­me­trie: Rück­zah­lun­gen ent­stam­men dem Vor­jah­res­über­schuss und sind abhän­gig von der Scha­den­ent­wick­lung. In Scha­den­jah­ren ent­fällt die Rück­zah­lung häu­fig, wäh­rend Bei­trags­er­hö­hun­gen dau­er­haft bestehen blei­ben. Die­se Prak­ti­ken wer­den in der Fach­dis­kus­si­on als pro­ble­ma­tisch für die Trans­pa­renz gegen­über Ver­si­cher­ten erörtert.

Die Rück­sei­te: Struk­tu­rel­le Abhän­gig­kei­ten und Risiken

Par­al­lel zu die­sen Mar­ke­ting­prak­ti­ken sind regio­na­le Ver­si­che­rer sys­te­misch abhän­gig von ihrer Rück­ver­si­che­rung. Dies ist ein in der Ver­si­che­rungs­bran­che doku­men­tier­tes und häu­fig dis­ku­tier­tes Phänomen.

Regio­na­le und klei­ne­re Ver­si­che­rer kön­nen Groß­schä­den und Kumul­schä­den nur regu­lie­ren, wenn Rück­ver­si­che­rer ihre Leis­tungs­ver­pflich­tun­gen erfül­len. Die eige­ne Kapi­tal­de­cke und Rück­la­gen rei­chen typi­scher­wei­se nur für Nor­mal­scha­den­jah­re und Ein­zel­er­eig­nis­se aus. Bei Kata­stro­phen­fäl­len über­steigt der Scha­den­be­darf schnell das ver­füg­ba­re Kapi­tal um ein Vielfaches.

Fach­krei­se iden­ti­fi­zie­ren meh­re­re Sze­na­ri­en, in denen Rück­ver­si­che­rer Leis­tungs­ver­wei­ge­run­gen oder ‑ver­zö­ge­run­gen prak­ti­zie­ren oder versuchen:

  • Ver­trag­li­che Inter­pre­ta­ti­ons­fra­gen: Ver­si­che­rungs­ver­trä­ge ent­hal­ten Defi­ni­tio­nen zu Ein­zel­schä­den ver­sus Kumul­schä­den sowie Aus­schluss­klau­seln. Fach­wis­sen­schaft­ler doku­men­tie­ren, dass sol­che Grau­zo­nen in Kri­sen­si­tua­tio­nen zu Rechts­strei­tig­kei­ten füh­ren können.
  • Höchst­scha­den­de­fi­ni­tio­nen: Rück­ver­si­che­rer ver­pflich­ten sich auf Schä­den bis zu bestimm­ten Höhen. Über­schrei­tun­gen füh­ren zu Aus­le­gungs­fra­gen über Höhe und Aufteilung.
  • Oblie­gen­heits­fra­gen: Es kann zu Strei­tig­kei­ten über die Erfül­lung von Scha­dens­min­de­rungs­maß­nah­men und Infor­ma­ti­ons­pflich­ten kommen.
  • Exter­ne Risi­ken: Insol­ven­zen von Rück­ver­si­che­rern, geo­po­li­ti­sche Kri­sen oder Sank­tio­nen kön­nen Zah­lungs­strö­me unterbrechen.

Leh­ren aus zwei Katastrophenereignissen

Zwei Ereig­nis­se der letz­ten Jah­re zei­gen die­se Struk­tu­ren in kon­kre­ter Form:

Der Tor­na­do über Pader­born und Lipp­stadt (20. Mai 2022)

Am 20. Mai 2022 ereig­ne­te sich in Pader­born und Lipp­stadt ein Tor­na­do-Ereig­nis mit doku­men­tier­ten Aus­wir­kun­gen: Nach Behör­den­an­ga­ben gab es Ver­letz­te und Sach­schä­den in beträcht­li­chem Umfang. Fens­ter zer­bra­chen, Ampel­mas­ten wur­den beschä­digt, Bäu­me ent­wur­zelt. In Lipp­stadt wur­de die Dach­kon­struk­ti­on des Kirch­turms und des Kir­chen­schiffs in Mit­lei­den­schaft gezogen.

Das Ereig­nis war beson­ders auf­schluss­reich für die Rol­le regio­na­ler Ver­si­che­rer: Loka­le und regio­na­le Gebäu­de­ver­si­che­rer sowie klas­si­sche Feu­er­so­zie­tä­ten waren für die Ver­si­che­rungs­fäl­le ihrer Mit­glie­der zustän­dig – ins­be­son­de­re bei klas­si­schen Brand­schä­den und sturm­be­ding­ten Gebäu­de­schä­den. Vie­le Scha­dens­mel­dun­gen lie­fen direkt über die­se Regio­nal­ver­si­che­run­gen, sodass sie die ers­ten Ansprech­part­ner für Gut­ach­ten, Regu­lie­rung und Vor­schüs­se waren.

Jedoch zeig­ten sich in der Pra­xis schnell die struk­tu­rel­len Gren­zen: Bei vie­len gleich­zei­tig ein­tre­ten­den Scha­dens­fäl­len stie­ßen klei­ne­re Ver­si­che­rungs­ver­ei­ne auf Gegen­sei­tig­keit an ihre Kapa­zi­täts­gren­zen. Her­aus­for­de­run­gen ent­stan­den bei der Abwick­lung von Hand­wer­ker­rech­nun­gen, bei Mate­ri­al­man­gel und vor allem bei der Bereit­stel­lung grö­ße­rer Scha­dens­sum­men. Zur Abde­ckung kumu­lier­ter Schä­den waren auch die­se regio­na­len Ver­si­che­rer auf die Unter­stüt­zung und Vor­fi­nan­zie­rung durch exter­ne Rück­ver­si­che­rer ange­wie­sen – ins­be­son­de­re bei dem außer­ge­wöhn­lich hohen Schadensaufkommen.

Das Tor­na­do-Ereig­nis illus­trier­te somit eine zen­tra­le Bruch­stel­le des Sys­tems: Regio­na­le Ver­si­che­rer sind im Nor­mal­fall vor Ort prä­sent und erreich­bar – bei Kata­stro­phen­la­gen jedoch sto­ßen sie schnell an ihre Gren­zen und wer­den abhän­gig von Rück­ver­si­che­rern und deren Zahlungsbereitschaft.

Die Hoch­was­ser­ka­ta­stro­phe im Ahrtal (14./15. Juli 2021)

Das Hoch­was­ser im Ahrtal vom 14./15. Juli 2021 wird von Ver­si­che­rungs­ver­bän­den als die scha­dens­reichs­te Natur­ka­ta­stro­phe in der deut­schen Ver­si­che­rungs­ge­schich­te doku­men­tiert. Offi­zi­el­le Anga­ben bezif­fern die Scha­den­sum­me auf etwa 8,75 Mil­li­ar­den Euro mit rund 206.000 Schadensfällen.

Die Ver­tei­lung der Regu­lie­rungs­last war asym­me­trisch: Die Haupt­last lag bei den gro­ßen bun­des­wei­ten Gesell­schaf­ten (Alli­anz, Pro­vin­zi­al, Gene­ra­li und ver­gleich­ba­ren Anbie­tern), da hier die Ver­si­che­rungs­spar­ten Ele­men­tar­scha­den und Kom­pakt­po­li­cen domi­nier­ten. Die­se gro­ßen Kon­zer­ne ver­füg­ten über die Kapa­zi­tä­ten und Rück­ver­si­che­rungs­struk­tu­ren für sol­che Volumen.

Den­noch betraf die Kata­stro­phe auch tau­sen­de Bestands­kun­den von regio­na­len Ver­si­che­rern wie Feu­er­so­zie­tä­ten oder klei­ne­ren Ver­ei­nen. Auch sie muss­ten für ihre Scha­dens­fäl­le regu­lie­ren – oft in enger Abstim­mung mit ihren Rück­ver­si­che­rern. Gera­de klei­ne loka­le Ver­si­che­rungs­ver­ei­ne berich­te­ten von erheb­li­chen Her­aus­for­de­run­gen: bei der Bereit­stel­lung kurz­fris­ti­ger Liqui­di­tät und der schnel­len Scha­den­be­ar­bei­tung, da die Orga­ni­sa­ti­on und Vor­fi­nan­zie­rung eines so gro­ßen Scha­dens­vo­lu­mens ihre nor­ma­len Kapa­zi­tä­ten überstieg.

In Ein­zel­fäl­len muss­ten Rück­ver­si­che­rer oder der Staat mit Not­fall­kre­di­ten oder Bürg­schaf­ten ein­sprin­gen, um regu­la­to­ri­sche und finan­zi­el­le Eng­päs­se aus­zu­glei­chen – ein Sze­na­rio, das die Abhän­gig­keit regio­na­ler Ver­si­che­rer von exter­nen Hilfs­me­cha­nis­men verdeutlicht.

Die Regu­lie­rungs­pra­xis offen­bar­te zudem Struk­tur­pro­ble­me: Ver­schie­de­ne Quel­len berich­ten, dass Ver­si­che­rer Ent­schä­di­gun­gen mit Ver­trags­aus­le­gun­gen ablehn­ten – etwa mit der Unter­schei­dung zwi­schen “Stark­re­gen” und “Hoch­was­ser” in Poli­cen­tex­ten. Dies illus­triert die prak­ti­sche Rele­vanz von Ver­trags­grau­zo­nen, die in Fach­dis­kus­sio­nen kri­ti­siert werden.

Trotz die­ser Her­aus­for­de­run­gen gelang es der Ver­si­che­rungs­wirt­schaft nach Bran­chen­an­ga­ben, etwa 90 Pro­zent der Scha­den­sum­me aus­zu­zah­len. Aller­dings zeig­ten sich dabei Deckungs­lü­cken und Ver­zö­ge­run­gen, die in der Fach­de­bat­te als sym­pto­ma­tisch für Sys­tem­schwä­chen dis­ku­tiert werden.

Die sys­te­mi­sche Per­spek­ti­ve: Wider­sprü­che im Versicherungsmodell

Aus die­sen Beob­ach­tun­gen ergibt sich eine ana­ly­ti­sche Spannung:

  • Regio­na­le Ver­si­che­rer wer­ben mit loka­ler Nähe und Zuver­läs­sig­keit – zeit­gleich sind sie struk­tu­rell abhän­gig von weit ent­fern­ten Rück­ver­si­che­rern, deren Zah­lungs­be­reit­schaft und Sol­venz sie nicht kon­trol­lie­ren können.
  • Sie prä­sen­tie­ren Rück­zah­lun­gen als Beweis für Kun­den­nä­he – wäh­rend par­al­lel die Bei­trä­ge kon­ti­nu­ier­lich stei­gen und Rück­zah­lun­gen kal­ku­la­to­risch unbe­deu­tend bleiben.
  • Sie ver­spre­chen Scha­dens­re­gu­lie­rung – doch bei Kata­stro­phen zei­gen sich Ver­trags­grau­zo­nen und mög­li­che Deckungs­lü­cken, wie die Ahrtal-Erfah­rung demonstrierte.

Die­se Wider­sprü­che sind kein indi­vi­du­el­les Ver­sa­gen ein­zel­ner Ver­si­che­rer, son­dern Aus­druck struk­tu­rel­ler Span­nun­gen des Regionalversicherer-Modells.

Die unbe­que­me Wahr­heit: Sys­tem­me­cha­ni­ken ver­sus Versprechen

Aus einer ana­ly­ti­schen Per­spek­ti­ve lässt sich das Sys­tem wie folgt beschreiben:

Nach außen wer­den Ver­spre­chen (Kun­den­nä­he, Zuver­läs­sig­keit, Rück­zah­lun­gen) ver­kauft. Intern funk­tio­niert das Modell durch: (1) mar­gi­na­le Bei­trags­op­ti­mie­rung über gestaf­fel­te Erhö­hun­gen und sym­bo­li­sche Rück­zah­lun­gen, (2) Abhän­gig­keit von Rück­ver­si­che­rern, die Kata­l­as­tro­phen­ri­si­ken tra­gen, (3) Ver­trags­struk­tu­ren mit Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­räu­men, die im Scha­dens­fall zu Kon­flik­ten füh­ren können.

Ver­brau­cher­schüt­zer und Ver­si­che­rungs­exper­ten kri­ti­sie­ren die­ses Modell regel­mä­ßig als wenig trans­pa­rent und für Ver­si­cher­te unbe­deu­tend – wäh­rend es für Ver­si­che­rer kal­ku­la­to­ri­sche Vor­tei­le bietet.

Die bei­den Kata­stro­phen­er­eig­nis­se haben die­se Kri­tik durch rea­le Fäl­le illus­triert: In bei­den Fäl­len zeig­te sich, wie schnell regio­na­le Ver­si­che­rer an ihre Gren­zen gelan­gen und wie Ver­trags­in­ter­pre­ta­tio­nen zu Regu­lie­rungs­pro­ble­men füh­ren können.

Fazit: Ein Sys­tem unter Spannung

Regio­na­le Ver­si­che­rer ope­rie­ren in einem struk­tu­rel­len Dilem­ma: Sie müs­sen wett­be­werbs­fä­hig blei­ben und ihre Mar­gen opti­mie­ren – gleich­zei­tig sind sie abhän­gig von Rück­ver­si­che­rern und von Ver­trags­struk­tu­ren, die im Kata­stro­phen­fall zu Kon­flik­ten füh­ren können.

Die Kom­bi­na­ti­on aus frag­wür­di­gen Mar­ke­ting­prak­ti­ken (Rück­zah­lungs­mo­del­le) und struk­tu­rel­ler Fra­gi­li­tät (Rück­ver­si­che­rungs­ab­hän­gig­keit) schafft ein Sys­tem, das nur funk­tio­niert, solan­ge sich kei­ne grö­ße­ren Kata­stro­phen ereignen.

Solan­ge die­ses Modell unver­än­dert bleibt, wer­den regio­na­le Ver­si­che­rer wei­ter­hin Mar­ke­ting betrei­ben, das ihre inter­nen Schwä­chen ver­schlei­ert. Ihre Kun­den wer­den in dem Glau­ben gelas­sen, bei einem zuver­läs­si­gen Part­ner ver­si­chert zu sein – bis zum nächs­ten Kata­stro­phen­er­eig­nis, wenn sich zeigt, dass die Gren­zen der Leis­tungs­fä­hig­keit schnel­ler erreicht sind als die Ver­spre­chun­gen suggerieren.

Die Fra­ge, die sich dar­aus ergibt: Ist ein sol­ches Sys­tem nach­hal­tig ver­tret­bar, oder sind Regu­lie­rungs­an­pas­sun­gen erfor­der­lich, um Ver­si­cher­te bes­ser zu schützen?