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600 Milliarden Euro über zehn Jahre – so beziffern führende Wirtschaftsinstitute den öffentlichen Investitionsbedarf für Deutschlands Transformation. Die Zahl wirkt gigantisch, gilt als wissenschaftlich fundierte Gesamtrechnung und bildet die Grundlage der politischen Debatte. Doch Detailstudien zeigen: Die tatsächlichen Bedarfe übersteigen bereits heute eine Billion Euro. Und während die Politik noch über die Finanzierung der Untergrenze debattiert, sorgen steigende Bau‑, Material- und Energiekosten dafür, dass sich die Lücke zwischen Planung und Realität mit jedem Jahr vergrößert. Eine Analyse der systematischen Unterschätzung und ihrer dynamischen Verschärfung.
Die wissenschaftliche Gesamtrechnung als Referenzpunkt
Im Mai 2024 legten das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine gemeinsame Studie vor, die zum Referenzpunkt der deutschen Investitionsdebatte wurde. 600 Milliarden Euro über zehn Jahre – jährlich etwa 60 Milliarden Euro oder 1,4 Prozent des BIP – sollen ausreichen, um Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfähig zu machen.
Die Studie schlüsselt minutiös auf: 177 Milliarden Euro für kommunale Infrastruktur, 200 Milliarden für Klimaschutz (einschließlich Netzausbau für Strom, Wasserstoff und Wärme), 127 Milliarden für Verkehrswege und ÖPNV, 42 Milliarden für Bildungsinfrastruktur, 37 Milliarden für sozialen Wohnungsbau.
Die Autoren betonen explizit, sie hätten Doppelzählungen vermieden. Der ÖPNV-Anteil wurde aus dem kommunalen Investitionsstau herausgerechnet. Die Berechnungen basieren auf einem “breiten Kranz aktueller wissenschaftlicher Untersuchungen”, auf KfW-Analysen, Difu-Studien, Ministeriumsangaben. Die Studie entstand in Zusammenarbeit zwischen einem arbeitgebernahen und einem gewerkschaftsnahen Institut – ein seltener Konsens. Selbst die politischen Lager übergreifend galt: Hier liegt eine seriöse, wenn auch ambitionierte Gesamtrechnung vor.
Die Botschaft war klar: 600 Milliarden sind machbar. “Eine überschaubare Größenordnung” im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, wie die Forscher schrieben. Die Schuldenquote würde trotz zeitweiliger Defizite sinken. Simulationsrechnungen prognostizierten ein BIP-Plus von bis zu 4.750 Milliarden Euro bis 2050. Das Investitionsprogramm würde sich selbst finanzieren. Deutschland müsse nur den politischen Willen aufbringen, die Schuldenbremse zu reformieren – dann sei die Transformation nicht nur notwendig, sondern auch ökonomisch lohnend.
Die Ernüchterung anderthalb Jahre später
Im November 2025, anderthalb Jahre nach der IMK/IW-Studie, veröffentlichte die KfW eine von PwC Deutschland erstellte Analyse zur Finanzierung der regionalen Energie- und Wärmewende. Die Zahlen lesen sich wie eine Korrektur der optimistischen Gesamtrechnung. Allein für Strom- und Gasverteilnetze sowie die netzgebundene Wärmeversorgung werden 535 Milliarden Euro bis 2045 benötigt – zwei Drittel davon, also etwa 350 Milliarden Euro, bis 2035.
Die IMK/IW-Studie hatte für “Netzausbau für Strom, Wasserstoff und Wärme” als Teil ihrer 200 Milliarden Euro Klimaschutzinvestitionen kalkuliert. Die energetische Gebäudesanierung war dort als “größter Einzelposten” aufgeführt, die Netzinfrastruktur als eine von mehreren “weiteren wichtigen Aufgaben”. Nun zeigt sich: Dieser Teilbereich allein verschlingt mehr als die Hälfte der gesamten politischen Referenzzahl. Selbst wenn man großzügig die vollen 200 Milliarden Euro der IMK/IW-Rechnung für Energieinfrastruktur ansetzt, bleibt eine Lücke von 150 Milliarden Euro – nur in diesem einen Sektor.
Die KfW-Studie offenbart zudem eine Finanzierungslücke von 346 Milliarden Euro bei den Energieversorgern – 299 Milliarden Euro Fremdkapital und 47 Milliarden Euro zusätzliches Eigenkapital bis 2035. Die Energieversorger können nur ein Viertel ihres Bedarfs aus eigener Kraft stemmen. Das traditionelle Sparkassen-Landesbanken-System stößt an strukturelle Grenzen. Die Kreditvergabe deutscher Banken an Energieversorger beläuft sich aktuell auf 130 Milliarden Euro – selbst bei optimistischer Schätzung wären bis 2035 nur 100 Milliarden Euro Nettozuwachs realistisch.
Die Anatomie der systematischen Unterschätzung
Die Diskrepanz zwischen politischer Referenzzahl und sektoralen Bedarfsanalysen offenbart ein fundamentales Planungsproblem. Während die IMK/IW-Studie mit 600 Milliarden Euro über zehn Jahre zur Grundlage der politischen Debatte wurde, weisen Detailstudien zu einzelnen Sektoren bereits Bedarfe aus, die diese Summe bei weitem übersteigen.
Die kommunale Verkehrsinfrastruktur illustriert das Ausmaß der Unterschätzung. Die IMK/IW-Studie veranschlagt 177 Milliarden Euro für kommunale Infrastruktur plus 127 Milliarden für Verkehrswege und ÖPNV – insgesamt 304 Milliarden Euro. Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) bezifferte 2023 allein die kommunale Verkehrsinfrastruktur auf 372 Milliarden Euro bis 2030. Die Differenz: 68 Milliarden Euro, mehr als das gesamte Budget für Bildungsinfrastruktur in der IMK/IW-Rechnung.
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