Theo­do­re Dreisers Roman “Der Finan­zier” (1912) erzählt den Auf­stieg des jun­gen Frank Cow­per­wood vom Ban­kiers­sohn zum mäch­ti­gen Spe­ku­lan­ten im Phil­adel­phia der 1870er Jah­re. Das Buch ist kei­ne Ankla­ge, son­dern eine Stu­die – fast im natur­wis­sen­schaft­li­chen Sinn. Drei­ser beob­ach­tet sei­nen Prot­ago­nis­ten wie ein Zoo­lo­ge eine beson­ders anpas­sungs­fä­hi­ge Spezies.


Die Hum­mer-Sze­ne

Berühmt gewor­den ist die Eröff­nungs­sze­ne: Der jun­ge Frank beob­ach­tet in einem Schau­fens­ter, wie ein Hum­mer eine Krab­be lang­sam zer­legt und frisst. Kei­ne dra­ma­ti­sche Jagd, son­dern metho­di­sche Ver­wer­tung. Cow­per­wood zieht dar­aus kei­ne mora­li­sche Lek­ti­on, son­dern eine prak­ti­sche: So funk­tio­niert die Welt. Wer das früh begreift, hat einen Vorsprung.

Sys­tem­ver­ständ­nis statt Ideologie

Cow­per­wood ist kein Ideo­lo­ge des frei­en Mark­tes, kein Pre­di­ger des Unter­neh­mer­tums. Er hat kei­ne Welt­an­schau­ung, die er ver­brei­ten möch­te. Was ihn aus­zeich­net, ist etwas ande­res: die Fähig­keit, Sys­te­me in ihrer tat­säch­li­chen Funk­ti­ons­wei­se zu erfas­sen – nicht in ihrer offi­zi­el­len Selbstbeschreibung.

Drei­ser zeigt das an Cow­per­woods frü­her Kar­rie­re. Als jun­ger Mann arbei­tet er bei ver­schie­de­nen Finanz­fir­men und beob­ach­tet, wie Geschäf­te tat­säch­lich zustan­de kom­men. Er regis­triert, dass die offi­zi­el­len Regeln – Kre­dit­wür­dig­keit, Sicher­hei­ten, ordent­li­che Buch­füh­rung – nur die Ober­flä­che bil­den. Dar­un­ter lie­gen Bezie­hungs­ge­flech­te, still­schwei­gen­de Abspra­chen, Infor­ma­ti­ons­vor­sprün­ge. Wer einem Ban­kier einen Gefal­len tut, bekommt beim nächs­ten Kre­dit bes­se­re Kon­di­tio­nen. Wer frü­her von einer Stadt­rats­ent­schei­dung erfährt, kann vor­her kau­fen und nach­her verkaufen.

Cow­per­wood ent­wi­ckelt dar­aus kei­ne Theo­rie, son­dern eine Pra­xis. Er ver­steht, dass jedes for­ma­le Sys­tem ein infor­mel­les Schat­ten­sys­tem hat, und dass die wirk­lich erfolg­rei­chen Akteu­re in bei­den navi­gie­ren kön­nen. Die Fähig­keit, zwi­schen bei­den Ebe­nen zu wech­seln – öffent­lich kor­rekt auf­zu­tre­ten und gleich­zei­tig die inof­fi­zi­el­len Kanä­le zu nut­zen – wird zu sei­nem eigent­li­chen Kapital.

Drei­ser beschreibt auch Cow­per­woods Ver­hält­nis zu K…