Dr. Aaron Sahr

Über das Wesen des Gel­des wird sei lan­ger Zeit inten­siv geforscht. Neben Öko­no­men beschäf­ti­gen sich mit die­ser Fra­ge auch die Sozio­lo­gen. Einen grö­ße­ren Bekannt­heits­grad erlang­te die Phi­lo­so­phie des Gel­des von Georg Sim­mel. Für den Sys­tem­theo­re­ti­ker Niklas Luh­mann han­delt es sich bei Geld um Zah­lungs­ver­spre­chen. Für Aaron Sahr (Bild) schaf­fen Zah­lungs­ver­spre­chen ein Bezie­hungs­ge­flecht, das Wirt­schaft und Gesell­schaft zusam­men­hält. Im Gespräch mit Bank­stil erläu­tert Aaron Sahr, wel­che Schlüs­se die Dia­gno­se des Bezie­hungs­ge­flechts des Gel­des auf das 
heu­ti­ge Bank­we­sen zulässt, wie er die aktu­el­le Dis­kus­si­on um Bit­co­in und Fin­tech bewer­tet und wo er noch wei­te­ren For­schungs­be­darf sieht. Der Sozio­lo­ge und Phi­lo­soph Aaron Sahr arbei­tet am  Ham­bur­ger Insti­tut für Sozi­al­for­schung. Dane­ben lehrt er an der Leu­pha­na Uni­ver­si­tät Lüne­burg. In sei­nem aktu­el­len Buch Das Ver­spre­chen des Gel­des. Eine Pra­xis­theo­rie des Kre­dits beschäf­tigt sich Sahr mit den Aus­wir­kun­gen der Geld­schöp­fung durch die Ban­ken auf Wirt­schaft und Gesellschaft. 

Herr Dr. Sahr, mit wel­chen Fra­gen beschäf­ti­gen Sie sich bei Ihren Forschungen?

Bis­her habe ich mich vor allem im Feld der Sozio­lo­gie des Gel­des enga­giert. Dazu gehört, dass man sich die Trans­for­ma­tio­nen ver­ge­gen­wär­tigt, die die Insti­tu­tio­nen des Geld­sys­tems in den letz­ten Jahr­zehn­ten durch­lau­fen haben. Dazu gehört aber auch der Pro­zess der Finan­zia­li­sie­rung – also der Bedeu­tungs­ge­winn von Finanz­märk­ten für die Gesamt­heit öko­no­mi­scher Wert­schöp­fungs­pro­zes­se – und dazu gehö­ren schließ­lich auch Fra­gen der Ver­tei­lung, also die Ver­än­de­rung von Chan­cen, Geld ein­zu­neh­men und anzu­spa­ren. Die­ser Zusam­men­hang von Geld­so­zio­lo­gie und Ungleich­heits­for­schung ist dabei ein jün­ge­res Pro­jekt. Und so haben mich die erwähn­ten Ver­än­de­run­gen zunächst vor allem im Hin­blick auf ihre geld­theo­re­ti­schen Kon­se­quen­zen interessiert. 

Was macht die Geld­theo­rie so inter­es­sant; wo set­zen Sie an?

In der Sozio­lo­gie fin­det zur­zeit ein Umden­ken statt: man hat sich, ganz so, wie es die Öko­no­mik vor­ge­lebt hat, lan­ge Zeit vor allem für die Funk­ti­on von Geld als einem Tausch­mit­tel, Wert­spei­cher usw. inter­es­siert. Man fand es rät­sel­haft, war­um eigent­lich stoff­wert­lo­se Din­ge wie Papier­schei­ne so wert­voll und damit so funk­tio­nal wer­den konn­ten. Und dann haben sich Sozio­lo­gin­nen und Sozio­lo­gen die Köp­fe dar­über zer­bro­chen, was es eigent­lich mit Gesell­schaf­ten macht, wenn immer mehr Inter­ak­tio­nen durch ein solch funk­tio­na­les Medi­um ver­mit­telt wer­den. Die­se Tra­di­ti­on hat Unmen­gen span­nen­der Ein­sich­ten zuta­ge geför­dert und den­noch etwas über­se­hen, was der­zeit immer mehr For­sche­rin­nen und For­scher beschäf­tigt. Inspi­riert von soge­nann­ten hete­ro­do­xen öko­no­mi­schen Theo­rien wird heu­te die Tat­sa­che in den Mit­tel­punkt der Geld­so­zio­lo­gie gerückt, dass Gut­ha­ben aus Schuld­ver­hält­nis­sen besteht. Man geht also von Giral­geld – ein Zah­lungs­ver­spre­chen einer Bank – als Refe­renz des Geld­be­griffs, also Eck­pfei­ler der Geld­theo­rie aus. Und nicht mehr von wert­vol­len Din­gen, die man sich wie Sach­wer­te vor­ge­stellt hat. 

Wenn man nun anfängt, über Gut­ha­ben als Schuld­be­zie­hung nach­zu­den­ken, dann ändert sich die Vor­stel­lung von dem, was sozio­lo­gisch mit dem Begriff „Geld“ bezeich­net wird. Die Zah­lungs­ver­spre­chen der Ban­ken exis­tie­ren als buch­hal­te­ri­sche Arte­fak­te, die durch die Zah­lungs­ver­spre­chen ande­rer über­haupt erst mög­lich wer­den. Das mag Ihnen nun tri­vi­al vor­kom­men, aber man ruft dann eben mit einer Geld­theo­rie kein funk­tio­na­les Medi­um mehr auf, auch kei­ne rein addier­te Men­ge an einem beson­de­ren Ver­mö­gens­ti­tel, son­dern ein Bezie­hungs­ge­flecht an Zah­lungs­ver­spre­chen, an dem – je nach­dem, von wel­cher Sei­te man schaut – Gläu­bi­ger wie Schuld­ner betei­ligt sind, egal ob sie gera­de zah­len oder nicht zah­len. Man könn­te auch sagen: es geht dar­um, von einem tausch­theo­re­ti­schen auf einen bezie­hungs­theo­re­ti­schen Blick auf das Geld umzu­stel­len, von Trans­ak­tio­nen auf Rela­tio­nen sozu­sa­gen. Die Kon­se­quen­zen die­ser Umstel­lung wei­ter zu ver­ste­hen (und die­se Bemü­hun­gen sind kei­nes­falls auf die Sozio­lo­gie beschränkt), fin­de ich hoch spannend. 

Folgt dar­aus, dass man dem “Bezie­hungs­ge­flecht” des Gel­des nicht ent­flie­hen kann; also alles – mehr oder weni­ger – so bleibt wie es ist?

Wer ein Giro­kon­to hat, ist Gläu­bi­ger in einem weit­ver­zweig­ten und hoch­kom­ple­xen Geflecht aus sich wech­sel­sei­tig ermög­li­chen­den Zah­lungs­ver­spre­chen. Die­ses Geflecht ist stän­dig in Bewe­gung und ver­än­dert sich. Einer­seits haben wir es bei Schul­den selbst­re­dend mit ter­mi­nier­ten (oder künd­ba­ren) Bezie­hun­gen zu tun, die kon­ti­nu­ier­lich auf­ge­löst wer­den und neu geknüpft wer­den müs­sen – indem sich wie­der jemand ver­schul­det. Die Fort­setz­bar­keit einer sol­chen Pra­xis der Bezie­hungs­knüp­fung (Ver­schul­dung) und Bezie­hungs­auf­lö­sung (Til­gung einer Schuld) ist also kei­nes­falls selbst­ver­ständ­lich, son­dern sie muss prak­tisch jeden Abend (etwa durch den Sal­den­aus­gleich auf dem Inter­ban­ken­markt) sicher­ge­stellt wer­den. Dass das in der Regel sehr gut funk­tio­niert, ist aus sozio­lo­gi­scher Sicht fast schon kurios. 

Aber auch lang­fris­tig ist das Bezie­hungs­ge­flecht dyna­misch: wie Zah­lungs­ver­spre­chen aus­ge­stal­tet wer­den, wer sie nach­fragt und wem ver­traut wird, ändert sich stän­dig. Man den­ke nur an die Ver­drän­gung klas­si­scher Bank­kon­ten durch Fonds in den USA, man den­ke an neue Ver­trags­for­men für Schuld­be­zie­hun­gen und vie­les mehr. 

Der Ruf der Ban­ken hat zwar durch die Finanz­kri­se stark gelit­ten, den­noch genie­ßen sie bei den Kun­den noch immer – wie in Fra­gen des Daten­schut­zes ein ver­gleichs­wei­se hohes Anse­hen – wie kommt das?

Hier­für sehe ich drei Grün­de: Ers­tens wird in Dis­kus­sio­nen manch­mal der Ein­druck erweckt, die Ban­ken­bran­che sei in der Finanz­kri­se von 2008 kol­lek­tiv geschei­tert. Das stimmt natür­lich für die aller­meis­ten Län­der und Nut­zer nicht. Zwar gab es hier und da Pro­ble­me bei der Abwick­lung des Zah­lungs­ver­kehrs, aber im Gro­ßen und Gan­zen konn­ten die meis­ten Kun­den wei­ter auf ihr Kon­to zugrei­fen und wei­ter damit bezah­len. Das Schei­tern war eher etwas abs­trak­tes, das woan­ders, irgend­wo auf „den Finanz­märk­ten“ statt­ge­fun­den hat. Wie gesagt, es gibt Aus­nah­men, aber das ist die Regel. Zwei­tens gibt es Ban­ken schon sehr lan­ge und sie sind wie nur wenig ande­re Insti­tu­tio­nen mit ihrem Hand­lungs­feld, dem Geld, asso­zi­iert. Eine sol­che Tra­di­ti­on wird nicht so leicht erschüt­tert, sie wird ja auch ritu­ell immer wie­der erneu­ert. Ich erin­ne­re mich bei­spiels­wei­se noch sehr gut an die Eröff­nung mei­nes ers­ten „Bank­kon­tos“ – eine Art Spiel­kon­to der Ber­li­ner Spar­kas­se, mit Comic­fi­gu­ren deko­riert.  Drit­tens schließ­lich gibt es eine struk­tu­rel­le Dimen­si­on: es gibt kei­ne wirk­li­che Alter­na­ti­ve zu Ban­ken. Man kann nur bedingt auf Bar­geld umstei­gen und auch dann hät­te man nur Geld in einer Hand, hin­ter dem das Ver­spre­chen einer Bank steht. Auch wür­de der Ver­mie­ter zum Monats­an­fang wei­ter­hin eine Über­wei­sung von einem Bank­kon­to erwar­ten, das Gehalt wird auf ein Bank­kon­to gebucht usw. Öko­no­men wür­den wohl sagen: die Oppor­tu­ni­täts­kos­ten für ech­tes, d.h. hand­lungs­re­le­van­tes Miss­trau­en gegen­über Ban­ken sind extrem hoch. Aber letzt­end­lich muss man die ers­te Ant­wort in den Mit­tel­punkt stel­len: das, was die meis­ten von ihrer Bank erwar­ten – Zah­lungs­ver­kehr – machen sie ein­fach sehr gut. 

In den letz­ten Jah­ren sind zahl­rei­che Fin­tech-Start­ups am Markt erschie­nen, die damit wer­ben bzw. gewor­ben haben, das Ban­king zu “dis­rup­ten”. Was sagt die sozio­lo­gi­sche For­schung dazu?

Dass jetzt neue Fir­men auf­tre­ten, die behaup­ten, den Zah­lungs­ver­kehr bes­ser abwi­ckeln zu kön­nen, ist hoch­in­ter­es­sant. Manch­mal nei­gen aller­dings selbst Sozio­lo­gin­nen und Sozio­lo­gen dazu, Hypes und schmei­chel­haf­ten Selbst­be­schrei­bun­gen von Sze­nen oder Bran­chen auf den Leim zu gehen. Das ist bei­spiels­wei­se gesche­hen, als die Dot­com-Bla­se zu einem neu­en „imma­te­ri­el­len“ Kapi­ta­lis­mus, oder der Life­style der Krea­tiv­wirt­schaft zu einem „ästhe­ti­schen“ Kapi­ta­lis­mus hoch­sti­li­siert wur­de. Es ist des­we­gen wich­tig, sol­che Mar­ke­ting­be­grif­fe wie „Dis­rup­ti­on“ kri­tisch zu betrach­tet. Denn der Begriff stammt ja, soweit ich weiß, selbst aus dem Sili­con Val­ley. Doch auch mit gewis­ser Vor­sicht ist der Effekt, den das Auf­tre­ten eini­ger (ehe­ma­li­ger) Start­ups wie Ama­zon oder Uber auf ihre jewei­li­gen Bran­chen hat­ten, nicht klein­zu­re­den. Hier wur­den schon gan­ze Geschäfts­fel­der neu geord­net. Bei den Fintechs ist eine ver­gleich­bar nach­drück­li­che „Dis­rup­ti­on“ der­zeit eher noch Teil jener kom­mu­ni­ka­ti­ven Stra­te­gien, mit denen um Risi­ko­ka­pi­tal kon­kur­riert wird – und weni­ger bereits ein­ge­tre­te­ne Rea­li­tät. Man muss jetzt genau beob­ach­ten, wie die Ban­ken­bran­che reagiert. Hier liegt immer­hin noch das Kapi­tal, mit dem die­se Fir­men groß wer­den oder in bestehen­de Struk­tu­ren inte­griert wer­den könn­ten. Die­ser Blog trägt ja nicht uner­heb­lich zu die­ser „Beob­ach­tung“ bei. 

Eini­ge erken­nen in digi­ta­len Wäh­run­gen wie Bit­co­in die Chan­ce, das bestehen­de Finanz­sys­tem von Grund auf zu ändern und zen­tra­le Instan­zen wie Ban­ken sowie unse­re bis­he­ri­gen Wäh­run­gen über­flüs­sig zu machen – wie rea­lis­tisch ist die­ses Szenario?

Auch hier gilt es, den hoch­tem­pe­rier­ten Dis­kurs der ear­ly adop­ter und Tech­no­lo­gie­en­thu­si­as­ten mit Vor­sicht zu son­die­ren. Bit­co­in sel­ber ist sicher­lich ein Lehr­buch­bei­spiel für Spe­ku­la­ti­ons­bla­sen. Ich wür­de die Kar­rie­re von Bit­co­in des­we­gen eher im Kon­text der stän­di­gen Rekord­prei­se von Kunst­wer­ken oder der Ver­mö­gens­preis­in­fla­ti­on ins­ge­samt ver­or­ten. Es ist als ver­läss­li­ches Zah­lungs­mit­tel also unbrauch­bar. Das scheint mir auch weit­ge­hen­der Kon­sens zu sein. Ich will in die­sem Zusam­men­hang zwei ande­re Aspek­te beto­nen: Die Geschich­te von Geld­ord­nun­gen ist kei­ne Geschich­te ratio­na­ler Ver­bes­se­rung öko­no­mi­scher Trans­ak­tio­nen. So wur­de sie zwar von der öko­no­mi­schen Klas­sik und Neo­klas­sik ger­ne erzählt, das sehen His­to­ri­ke­rin­nen und Sozio­lo­gen aber anders. Der Wan­del von Geld­sys­te­men ist immer poli­tisch, er hat mit Macht­ver­hält­nis­sen, Pro­fit­mög­lich­kei­ten, staat­li­chem Finan­zie­rungs­be­darf, fis­ka­li­schen Regeln (in wel­cher Wäh­rung darf ich Steu­ern und Stra­fen bezah­len bei­spiels­wei­se) und vie­lem mehr zu tun. Das Argu­ment, Bit­co­in sei so fürch­ter­lich prak­tisch, dass sich die Kos­ten für Inter­me­diä­re wie Ban­ken umge­hen lie­ßen, hat his­to­risch betrach­tet wenig Gewicht. 

Zwei­tens füh­ren Bit­co­in-Enthu­si­as­ten neben der hohen Funk­tio­na­li­tät ger­ne die abso­lu­te Knapp­heit die­ses Zah­lungs­mit­tel als Argu­ment für sei­ne Über­le­gen­heit über her­kömm­li­ches Geld an. Immer­hin ist die Men­ge mög­li­cher Bit­co­ins nicht nur end­lich, son­dern ein­deu­tig deter­mi­niert. Tat­säch­lich ist es his­to­risch betrach­tet doch aber so, dass Knapp­heit für Zah­lungs­mit­tel eher ein Pro­blem als ein Vor­teil war. Märk­te haben auf einen Man­gel immer wie­der mit der Gene­rie­rung von Geld­sur­ro­ga­ten reagiert und auch poli­ti­sche Auto­ri­tä­ten haben, wenn es mit der eige­nen Finan­zie­rung pro­ble­ma­tisch wur­de, immer wie­der die Knapp­heit der alten Wäh­rung durch eine Reform über­wun­den. Es wäre sicher­lich zu stark ver­ein­facht zu sagen, dass Zah­lungs­sys­te­me immer dann schei­tern, wenn Kapi­ta­lis­ten oder Fürs­ten in sol­che Zah­lungs­eng­päs­se gera­ten, die nur noch durch eine Geld­re­form zu behe­ben sind – aber ganz falsch ist es auch nicht. Für Bit­co­in als neu­es Geld spricht also womög­lich gar nicht so viel, wie man manch­mal meint. Das ändert im Übri­gen nichts dar­an, dass die Tech­no­lo­gie hin­ter Bit­co­in und Co, die Block­chain (oder all­ge­mei­ner: Dis­tri­bu­ted Led­ger Tech­no­lo­gy), fas­zi­nie­rend ist, auch und gera­de aus sozio­lo­gi­scher Sicht. Nicht zuletzt, weil wirk­mäch­ti­ge Akteu­re wie die Zen­tral­ban­ken begin­nen, damit zu expe­ri­men­tie­ren. Hier gilt es für die Sozio­lo­gie, auf­merk­sam zu sein, ohne die hyper­li­be­ra­len Träu­me der Bit­co­in-Nut­zer unre­flek­tiert zu replizieren. 

Wird der Ein­fluss tech­no­lo­gi­scher Ent­wick­lun­gen auf die Gesell­schaft überschätzt?

Ich wür­de es anders for­mu­lie­ren: es gibt ein­fach kei­ne rein tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lun­gen. Das mag man jetzt für tri­vi­al hal­ten, ist aber eine wich­ti­ge Prä­mis­se. Dass irgend­ei­ne Erfin­dung bei­spiels­wei­se eine tech­ni­sche Lösung für ein bestimm­tes, durch eine Theo­rie defi­nier­tes Pro­blem ist (etwa: Effi­zi­enz), bewirkt noch nicht, dass die neue Tech­no­lo­gie sich durch­setzt. Das hat viel­mehr mit kul­tu­rel­len Mus­tern, Zufäl­len und natür­lich mit Macht­ver­hält­nis­sen zu tun. Gene­rell sind außer­dem die sozia­len Struk­tu­ren, die Tech­no­lo­gie tra­gen und ein­bet­ten, rela­tiv sta­bil. Es gibt zwar Zwei­ge der Sozio­lo­gie, die mei­nen, Tech­no­lo­gien wie das Inter­net, Smart­phones oder Pod­casts wür­den ein fun­da­men­ta­les Umden­ken erfor­dern, eine ganz neue Theo­rie sozia­ler Zusam­men­hän­ge, wenn man so will. Aber das hat mir noch nie ein­ge­leuch­tet. Das scheint mir eine The­se zu sein, die den ein­drucks­vol­len Mar­ke­ting­shows von Apple auf den Leim gegan­gen ist, bei denen mit viel Tam­tam immer wie­der Revo­lu­tio­nen auf dem Tech­no­lo­gie­markt ver­kün­det wur­den. Am Ende hält der End­ver­brau­cher dann etwas rat­los ein sehr teu­res Tele­fon in den Hän­den, das unter aus­beu­te­ri­schen Ver­hält­nis­sen her­ge­stellt wur­de und die Apple-Aktio­nä­re wie­der ein biss­chen rei­cher gemacht hat. So neu ist das gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis dann doch auch nicht, das hin­ter dem Smart­phone steht und durch das Smart­phone repro­du­ziert wird. Natür­lich über­trei­be ich hier: selbst­ver­ständ­lich macht Tech­nik neue Geschäfts­for­men und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­di mög­lich, die für die Sozio­lo­gie inter­es­sant und wich­tig sind. Man den­ke etwa nur an die „Platt­form­lo­gik“ der gro­ßen Leit­un­ter­neh­men des Inter­nets. Aber weder deter­mi­niert Tech­no­lo­gie eine Ver­än­de­rung sozia­ler Struk­tu­ren, noch kann man vom theo­re­ti­schen Poten­ti­al einer Tech­no­lo­gie auf ihre gesell­schaft­li­che Kar­rie­re schlie­ßen. Sol­che Kau­sa­li­tä­ten las­sen sich immer erst hin­ter­her unterstellen. 

Ban­ken ver­füg­ten in der Ver­gan­gen­heit von allen Wirt­schafts­ak­teu­ren über den umfang­reichs­ten Daten­be­stand – das hat sich mit dem Auf­kom­men der sog. Daten­öko­no­mie und durch Inter­net­kon­zer­ne wie Apple, Ama­zon und Goog­le geän­dert – wel­che Fol­gen könn­te das für die Ban­ken haben?

Damit spre­chen Sie ein wirk­lich inter­es­san­tes Sze­na­rio an. Es ist von gro­ßem Vor­teil für einen Anbie­ter von Kre­di­ten, viel über die Vor­ge­schich­te eines poten­ti­el­len Schuld­ners zu wis­sen. Und machen wir uns nichts vor: Mah­nun­gen wegen säu­mi­ger Zah­lun­gen lan­den im E‑Mailpostfach von Goog­le, wir suchen nach „Inkas­so ver­mei­den“ in Goo­gles Such­ma­schi­ne oder kön­nen eine App-Abon­ne­ment im Goog­le-Store nicht mehr ver­län­gern – die Mög­lich­kei­ten, kre­dit­re­le­van­te Infor­ma­tio­nen zu sam­meln, sind hier gren­zen­los. Auch Ama­zon weiß wahr­schein­lich mehr über die Kon­sum- und Preis­ent­wick­lung gan­zer Volks­wirt­schaf­ten als manch insti­tu­tio­nel­ler Beob­ach­ter und könn­te dem­entspre­chen­de Anla­ge­tipps geben. Seit die Ban­ken in glo­ba­ler Kon­kur­renz auf Ren­di­te­mar­gen zie­len, die sich durch loka­le Finan­zie­run­gen (für die sie lan­ge als ein­zi­ge die Exper­ti­se hat­ten) nicht mehr gene­rie­ren las­sen, haben sie tat­säch­lich ein Pro­blem. Vor der Finanz­kri­se von 2008 haben die ame­ri­ka­ni­schen Ban­ken das gelöst, indem sie ein­fach jedem Kre­dit gege­ben haben und ihre Gewin­ne durch Ver­brie­fung, also den Ver­kauf undurch­sich­ti­ger Pake­te, erwirt­schaf­tet haben. Sol­che Aus­weich­stra­te­gien sind auch, aber sicher nicht nur, Aus­druck die­ser Pro­ble­ma­tik. Aber von einer Ablö­sung der Ban­ken muss man nicht aus­ge­hen. In den Zen­tren der Welt­wirt­schaft haben wir es ja mit kom­ple­xen Fir­men­netz­wer­ken zu tun, die nicht ent­we­der eine Bank sind oder nicht, son­dern mit Kon­glo­me­ra­ten, die sowohl aus Ban­ken als auch aus Nicht­ban­ken bestehen. Es könn­te also sein, dass Ban­ken, die Teil der Netz­wer­ke der Daten­rie­sen sind, Geschäfts­fel­der bedie­nen kön­nen, die ande­ren Ban­ken nicht mehr lukra­tiv ver­wer­ten kön­nen. Ob des­we­gen das Haupt­quar­tier des Finanz­ka­pi­ta­lis­mus von New York und der City of Lon­don in das Sili­con Val­ley umzieht, bleibt abzuwarten. 

Besteht auch in Zukunft noch Bedarf an Orga­ni­sa­tio­nen, die uns die Arbeit abneh­men, wie z.B. bei der Suche geeig­ne­ter Anla­ge­for­men und Kre­di­te sowie bei der Ver­wal­tung unse­rer (digi­ta­len) Vermögenswerte?

Es gibt jeden­falls wenig Grund, vom Gegen­teil aus­zu­ge­hen. Mir ist klar, dass die Enthu­si­as­ten der Dis­tri­bu­ted Led­ger Tech­no­lo­gy von einer „dezen­tra­len“ Gesell­schaft träu­men – einer Gesell­schaft, in der Inter­ak­tio­nen zwi­schen Ein­zel­per­so­nen ohne Mit­tels­män­ner durch­führ­bar sind. Also etwa Zah­lun­gen oder Kre­di­te ohne Ban­ken, oder auch ohne Nota­re oder gar Anwäl­te (dank smart con­tracts). Und die­se Phan­ta­sie ist nicht auf die Finanz­welt beschränkt, hier gehört etwa auch die Vor­stel­lung einer digi­tal ver­mit­tel­ten liquid demo­cra­cy dazu, die dann und wann zur Alter­na­ti­ve des Par­la­men­ta­ris­mus sti­li­siert wird. Mein Pro­blem damit ist: Sozio­lo­gisch betrach­tet gibt es Insti­tu­tio­nen und Orga­ni­sa­tio­nen nicht nur, weil ihr Ein­satz im stren­gen Sin­ne öko­no­mi­sche Kos­ten redu­ziert. Wir schlie­ßen bei­spiels­wei­se nicht nur des­we­gen Ver­si­che­run­gen ab, weil wir glau­ben, am Ende mehr raus­zu­be­kom­men als wir ein­ge­zahlt haben. Genau­so wenig bucht man bei sei­nem Tele­fon- oder Unter­hal­tungs­an­bie­ter Flat­rates, weil Pau­schal­be­trä­ge güns­ti­ger wären als der Ein­zel­kauf. Ich will dar­auf hin­aus, dass es extrem attrak­tiv ist, sich nicht um alles selbst küm­mern zu müs­sen. Zah­lun­gen beru­hi­gen, ganz unab­hän­gig von einem mess­ba­ren Gegen­wert. Es geht gera­de dar­um, den Kopf frei zu haben von sol­chen Kal­kü­len. Es ist bei­spiels­wei­se ein­fach ange­nehm zu unter­stel­len, dass sich jemand dar­um küm­mert, dass alles sei­nen gewohn­ten Gang geht. Zeit­bud­gets und Moti­va­ti­on, sich mit allem aus­ein­an­der­zu­set­zen, sind begrenzt, Inter­me­diä­re ver­schaf­fen Abhil­fe und kön­nen gleich­zei­tig (dann und wann) zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen wer­den, wenn etwas schief läuft –  oder man hat wenigs­tens jeman­den, auf den man wütend sein kann. Das ist sicher­lich nur ein Aspekt einer all­ge­mei­nen Bin­sen­weis­heit der Sozio­lo­gie: Gesell­schaf­ten bestehen nicht nur aus Indi­vi­du­en – und dar­an wird auch die Block­chain nichts ändern. 

Wo sehen Sie für die nächs­ten Jah­re in Ihrem Fach den größ­ten Forschungsbedarf?

Mit Ant­wor­ten auf sol­che Fra­gen macht man sich als Nach­wuchs­wis­sen­schaft­ler schnell unbe­liebt. Ich will aus mei­ner War­te den­noch ein paar Stich­wor­te in den Raum wer­fen. Wir müs­sen in der Sozio­lo­gie ers­tens unse­re Theo­rien über Makro­öko­no­mie und das Ver­hält­nis von Wirt­schaft, Gesell­schaft und Staat­lich­keit unter einer bezie­hungs­theo­re­ti­schen Per­spek­ti­ve noch ein­mal son­die­ren. Also einer Per­spek­ti­ve, wie ich sie ein­gangs skiz­ziert habe, die von Ver­schul­dung und Ver­schul­dungs­auf­lö­sung als basa­lem Pro­zess öko­no­mi­scher Zusam­men­hän­ge aus­geht – nicht von Kapi­tal­ak­ku­mu­la­ti­on oder Markt­tausch. Hier müs­sen wir, mei­ne ich, noch stär­ker den Dia­log mit soge­nann­ten hete­ro­do­xen öko­no­mi­schen Theo­rien suchen, ohne sie unkri­tisch zu über­neh­men. Zwei­tens gilt es, bei den viel­fäl­ti­gen Expe­ri­men­ten alter­na­ti­ver Wäh­run­gen und Zah­lungs­sys­te­me am Ball zu blei­ben und die­se Ent­wick­lun­gen vor dem Hin­ter­grund einer soli­den Geld­theo­rie zu reflek­tie­ren. Drit­tens fän­de ich eine Inten­si­vie­rung his­to­ri­scher Sozio­lo­gie des Ban­ken- und Finanz­sys­tems span­nend, die vor allem nach den (recht­li­chen, tech­ni­schen, poli­ti­schen und sozia­len) Grund­la­gen pri­va­ter Geld­schöp­fung fragt. Mir scheint – aber ich sage das hier alles wie gesagt aus mei­ner ein­ge­schränk­ten Per­spek­ti­ve –  hier noch For­schungs­be­darf zu bestehen. Vier­tens schei­nen mir Geld­theo­rie und Geld­schöp­fung in popu­lä­ren Ansät­zen der Ungleich­heits­for­schung noch nicht hin­rei­chend inte­griert zu sein. Ich habe das in einer klei­nen Schrift bereits etwas aus­ge­führt und wenn man etwas publi­ziert hofft man natür­lich immer auf eine Debat­te. Fünf­tens schließ­lich gilt es, die Rol­le von Geld und Geld­schöp­fung für die „Resi­li­enz des Finanz­ka­pi­ta­lis­mus“ expli­zit zum The­ma zu machen – so zumin­dest for­mu­liert es ein For­schungs­netz­werk, zu dem ich ein­ge­la­den wur­de und auf dass ich mir an die­ser Stel­le hin­zu­wei­sen erlau­be (http://www.politicsofmoney.org/).

Herr Dr. Sahr, vie­len Dank für das Gespräch!

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