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Als Grün­dungs­di­rek­tor der Deut­schen Bank form­te Georg von Sie­mens das deut­sche Bank­we­sen grund­le­gend um. Mit visio­nä­rem Weit­blick schuf er die finan­zi­el­len Grund­la­gen für die Indus­tria­li­sie­rung Deutsch­lands und eta­blier­te ein inter­na­tio­na­les Ban­ken­netz­werk, das sei­ner Zeit weit vor­aus war. Sei­ne Geschich­te ist die eines Man­nes, der aus einer Fami­lie von Inge­nieu­ren stamm­te, aber mit dem Kapi­tal als Werk­zeug arbei­te­te – und damit die Zukunft einer Nati­on mitgestaltete.


Als Georg von Sie­mens im Jahr 1870 die Lei­tung der neu gegrün­de­ten Deut­schen Bank über­nahm, stand Deutsch­land am Beginn einer bei­spiel­lo­sen wirt­schaft­li­chen Trans­for­ma­ti­on. Die Reichs­grün­dung hat­te poli­ti­sche Ein­heit geschaf­fen, doch die indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on ver­lang­te nach neu­en Finan­zie­rungs­in­stru­men­ten und muti­gen Ban­kiers, die bereit waren, über eta­blier­te Gren­zen hin­aus­zu­den­ken. Sie­mens soll­te zu einem die­ser Pio­nie­re wer­den – nicht durch Zufall, son­dern durch eine bemer­kens­wer­te Kom­bi­na­ti­on aus juris­ti­scher Prä­zi­si­on, unter­neh­me­ri­schem Wage­mut und stra­te­gi­schem Weitblick.

Gebo­ren 1839 in eine Fami­lie, die durch tech­ni­sche Inno­va­tio­nen bereits Geschich­te schrieb, hät­te Georg von Sie­mens den Weg sei­ner berühm­ten Onkel Wer­ner, Wil­helm und Carl ein­schla­gen kön­nen. Doch wäh­rend die­se mit Tele­gra­fen­tech­nik und Elek­tri­zi­tät expe­ri­men­tier­ten, ent­deck­te er ein ande­res Ter­rain für Inno­va­ti­on: die Finanz­ar­chi­tek­tur des moder­nen Kapi­ta­lis­mus. Sei­ne juris­ti­sche Aus­bil­dung ver­schaff­te ihm das ana­ly­ti­sche Rüst­zeug, doch es war sein Ver­ständ­nis für die Dyna­mik zwi­schen Kapi­tal und Indus­trie, das ihn zu einer Schlüs­sel­fi­gur der deut­schen Wirt­schafts­ge­schich­te machen sollte.

Unter Sie­mens’ drei­ßig­jäh­ri­ger Füh­rung ent­wi­ckel­te sich die Deut­sche Bank von einem ambi­tio­nier­ten Start­up zu einer der mäch­tigs­ten Finanz­in­sti­tu­tio­nen Euro­pas. Sei­ne Stra­te­gie war eben­so sim­pel wie revo­lu­tio­när: Er erkann­te, dass die rasan­te Indus­tria­li­sie­rung enor­me Kapi­tal­men­gen benö­tig­te, die weit über das hin­aus­gin­gen, was tra­di­tio­nel­le Bank­ge­schäf­te mobi­li­sie­ren konn­ten. Sie­mens’ Ant­wort war die sys­te­ma­ti­sche För­de­rung des Ein­la­gen­ge­schäfts – eine in Deutsch­land damals noch wenig ver­brei­te­te Pra­xis. Indem er die Deut­sche Bank für brei­te­re Bevöl­ke­rungs­schich­ten als Spar­in­sti­tu­ti­on öff­ne­te, schuf er eine Kapi­tal­ba­sis, die es ermög­lich­te, Indus­trie­gi­gan­ten wie AEG, Man­nes­mann, Bay­er und BASF zu finan­zie­ren. Die­se Unter­neh­men wur­den zu Sym­bo­len deut­scher Inge­nieurs­kunst und Wirt­schafts­macht – und die Deut­sche Bank zu ihrer finan­zi­el­len Lebensader.

Doch Sie­mens dach­te nicht in natio­na­len Kate­go­rien allein. Mit einem für sei­ne Zeit außer­ge­wöhn­li­chen glo­ba­len Bewusst­sein trieb er die inter­na­tio­na­le Expan­si­on der Deut­schen Bank vor­an. Filia­len in Lon­don, Paris, New York, Shang­hai und Süd­ame­ri­ka soll­ten die Bank in das Ner­ven­sys­tem der Welt­wirt­schaft ein­bin­den. Die­se Visi­on war ihrer Zeit vor­aus – zu weit vor­aus, wie sich zei­gen soll­te. Poli­ti­sche Span­nun­gen und wirt­schaft­li­che Tur­bu­len­zen zwan­gen die Bank, eini­ge die­ser Aus­lands­pos­ten wie­der auf­zu­ge­ben. Den­noch hat­te Sie­mens einen Stan­dard gesetzt: Deut­sche Ban­ken soll­ten inter­na­tio­na­le Play­er sein, nicht nur Dienst­leis­ter für hei­mi­sche Industrien.

Beson­ders fas­zi­nie­rend ist Sie­mens’ Enga­ge­ment im Eisen­bahn­bau, jener Schlüs­sel­tech­no­lo­gie des 19. Jahr­hun­derts, die Kon­ti­nen­te erschloss und Märk­te mit­ein­an­der ver­band. Die Finan­zie­rung der Nor­t­hern Paci­fic Rail­way in den USA und der legen­dä­ren Bag­dad­bahn im Osma­ni­schen Reich zeigt, wie weit sein Akti­ons­ra­di­us reich­te. Die­se Pro­jek­te waren mehr als nur pro­fi­ta­ble Inves­ti­tio­nen – sie waren geo­po­li­ti­sche State­ments, Ver­su­che, durch Infra­struk­tur wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche Ein­fluss­sphä­ren zu sichern. Die Bag­dad­bahn ins­be­son­de­re soll­te Deutsch­land einen Zugang zum Nahen Osten ver­schaf­fen und wur­de zum Sym­bol deut­scher impe­ria­ler Ambi­tio­nen, lan­ge bevor die tra­gi­schen Kon­se­quen­zen sol­cher Groß­macht­po­li­tik offen­bar wurden.

Neben sei­ner bank­po­li­ti­schen Tätig­keit enga­gier­te sich Sie­mens auch im Reichs­tag für die Natio­nal Libe­ra­le Par­tei, jene poli­ti­sche Kraft, die für wirt­schaft­li­chen Fort­schritt und natio­na­le Ein­heit stand, aber auch zuneh­mend mit den auto­ri­tä­ren Ten­den­zen des Kai­ser­reichs koope­rier­te. Die­se Dop­pel­rol­le als Ban­kier und Poli­ti­ker war typisch für die Ära – die Gren­zen zwi­schen Wirt­schaft und Poli­tik waren flie­ßend, und die Eli­ten beweg­ten sich mühe­los zwi­schen bei­den Sphären.

Im Jahr 1897 voll­brach­te Sie­mens noch eine sym­bol­träch­ti­ge Tat: Er unter­stütz­te die Umwand­lung von Sie­mens & Hals­ke, dem Unter­neh­men sei­ner Fami­lie, in eine Akti­en­ge­sell­schaft. Die­se Ent­schei­dung zeigt, wie sehr er das moder­ne Kapi­tal­mo­dell ver­in­ner­licht hat­te – selbst das Fami­li­en­un­ter­neh­men soll­te sich den Mecha­nis­men des Akti­en­markts öff­nen, um Kapi­tal für wei­te­res Wachs­tum zu mobilisieren.

Als Georg von Sie­mens 1901 im Alter von 62 Jah­ren an Krebs starb, hin­ter­ließ er nicht nur eine Frau und sechs Töch­ter, son­dern auch ein tief­grei­fend ver­än­der­tes deut­sches Bank­we­sen. Die Deut­sche Bank, die er drei Jahr­zehn­te lang geprägt hat­te, war zu einem Macht­fak­tor gewor­den, des­sen Ein­fluss weit über die Finanz­welt hin­aus­reich­te. Ein Park in Ber­lin-Ste­glitz trägt heu­te sei­nen Namen – ein beschei­de­nes Monu­ment für einen Mann, des­sen eigent­li­ches Ver­mächt­nis in den Struk­tu­ren liegt, die bis heu­te das Ver­hält­nis zwi­schen Kapi­tal und Indus­trie, zwi­schen natio­na­ler Wirt­schaft und glo­ba­len Märk­ten prägen.

Georg von Sie­mens war weder ein Visio­när im roman­ti­schen Sin­ne noch ein rück­sichts­lo­ser Kapi­ta­list. Er war viel­mehr ein Archi­tekt – jemand, der ver­stand, dass wirt­schaft­li­che Macht auf insti­tu­tio­nel­len Fun­da­men­ten ruht, die sorg­fäl­tig geplant und kon­se­quent auf­ge­baut wer­den müs­sen. In einer Zeit, in der Deutsch­land sich anschick­te, eine Welt­macht zu wer­den, schuf er die finan­zi­el­le Infra­struk­tur für die­sen Auf­stieg. Dass die­ser Auf­stieg spä­ter in Kata­stro­phen mün­de­te, schmä­lert nicht sei­ne his­to­ri­sche Bedeu­tung, soll­te aber dar­an erin­nern, dass wirt­schaft­li­che Macht stets nach ethi­scher Ver­ant­wor­tung ver­langt – eine Lek­ti­on, die im Glanz des Grün­der­zeit-Opti­mis­mus all­zu leicht über­se­hen wurde.