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Spar­kas­sen und Volks­ban­ken gel­ten als dezen­tral und regio­nal ver­wur­zelt. Doch sind sie wirk­lich das, was der Phi­lo­soph Édouard Glis­sant als „archi­pe­lisch” beschreibt? Ein Bei­trag über die Dif­fe­renz zwi­schen insti­tu­tio­na­li­sier­ter Dezen­tra­li­tät und ech­ter Netz­werk­flui­di­tät – und war­um Fusio­nen das Ban­king kon­ti­nen­ta­ler machen, statt es zu öffnen.


Die Ver­hei­ßung des Archipels

Édouard Glis­sant hat mit sei­nem archi­pe­li­schen Den­ken ein Modell ent­wor­fen, das Iden­ti­tät nicht als fes­ten Block begreift, son­dern als dyna­mi­sches Netz­werk von Bezie­hun­gen. Archi­pe­li­sche Iden­ti­tät ent­steht zwi­schen den Inseln – in Aus­tausch, Ambi­va­lenz und stän­di­ger Offen­heit gegen­über dem Ande­ren. Sie ist flui­de, bezie­hungs­ba­siert, nie abge­schlos­sen. Das Gegen­teil ist das Kon­ti­nen­ta­le: mono­li­thisch, zen­tra­li­siert, auf Ein­heit und Sta­bi­li­tät ausgerichtet.

Was geschieht, wenn wir die­ses Den­ken auf das Ban­king übertragen?

Ban­king als Archi­pel: Ein Versprechen

Archi­pe­li­sches Ban­king wür­de Finanz­land­schaf­ten nicht als hier­ar­chi­sche Pyra­mi­de ver­ste­hen, son­dern als ver­teil­tes Netz­werk eigen­stän­di­ger Ein­hei­ten, die mit­ein­an­der in Bezie­hung tre­ten. Statt einer domi­nan­ten Uni­ver­sal­bank gäbe es vie­le klei­ne „Finanz­in­seln”, die sich dyna­misch ver­net­zen, von­ein­an­der ler­nen und ihre Iden­ti­tät situa­tiv anpas­sen. Wert ent­stün­de nicht durch Grö­ße und Abgren­zung, son­dern durch Koope­ra­ti­on und krea­ti­ve Interaktion.

Die­se Visi­on klingt ver­traut: Sind nicht Spar­kas­sen und Genos­sen­schafts­ban­ken genau das? Hun­der­te recht­lich eigen­stän­di­ger, lokal ver­an­ker­ter Insti­tu­te, die ein dezen­tra­les Netz­werk bilden?

Die Täu­schung der Dezentralität

Bei genaue­rem Hin­se­hen zeigt sich: Spar­kas­sen und Genos­sen­schafts­ban­ken erschei­nen dezen­tral, sind aber im Kern kon­ti­nen­tal struk­tu­riert. Sie sind regu­la­to­risch und funk­tio­nal stark syn­chro­ni­siert. Ein­heit­li­che Pro­duk­te, stan­dar­di­sier­te Pro­zes­se, zen­tra­lis­ti­sche Gover­nan­ce durch DSGV und BVR prä­gen das Sys­tem. Ihre Iden­ti­tät ist nicht emer­gent und dyna­misch, son­dern insti­tu­tio­na­li­siert und stabilisiert.

Die loka­le Ver­an­ke­rung ist zur Rou­ti­ne gewor­den, nicht zur geleb­ten Offen­heit. Bezie­hun­gen sind pri­mär öko­no­misch moti­viert – Kun­den­bin­dung, regio­na­le Wert­schöp­fung –, weni­ger expe­ri­men­tell oder hybrid. Das Netz­werk bleibt homo­gen. Trans­for­ma­tio­nen erfol­gen lang­sam, oft defen­siv. Von der krea­ti­ven Plu­ra­li­tät und flui­den Bezie­hungs­dy­na­mik, die Glis­sant beschreibt, ist wenig zu spüren.

Fusio­nen als Kontinentalisierung

Noch deut­li­cher wird die­se Ent­wick­lung durch die anhal­ten­de Fusi­ons­wel­le: Die Zahl der Spar­kas­sen ist seit 2000 von 562 auf 385 gesun­ken. Fusio­nen wer­den mit Regu­la­to­rik, Kos­ten­druck und Digi­ta­li­sie­rung begrün­det – nicht mit dem Wunsch nach mehr Plu­ra­li­tät oder Beziehungsoffenheit.

Weni­ger Insti­tu­te bedeu­ten höhe­re Bilanz­sum­men, mehr Zen­tra­li­sie­rung, homo­ge­ne­re Iden­ti­tä­ten. Die ursprüng­li­chen Vor­tei­le der Dezen­tra­li­tät – Kun­den­nä­he, loka­le Spe­zi­fi­tät, indi­vi­du­el­le Lösun­gen – dro­hen der Logik der Ska­lie­rung zum Opfer zu fal­len. Mit jeder Fusi­on wer­den aus poten­zi­el­len Inseln Kon­ti­nen­tal­blö­cke: grö­ßer, schwer­fäl­li­ger, einheitlicher.

Wo wäre ech­tes archi­pe­li­sches Banking?

Wirk­lich archi­pe­lisch wür­de Ban­king dort, wo Iden­ti­tä­ten und Ange­bo­te durch Bezie­hung und situa­ti­ve Offen­heit entstehen:

  • Bot­tom-up Kryp­to-Koope­ra­ti­ven mit flie­ßen­den Iden­ti­tä­ten und glo­ba­ler Peer-to-Peer-Verknüpfung
    Com­mu­ni­ty-Ban­king mit dyna­mi­schen, situa­ti­ven Koope­ra­tio­nen, Hybrid- und Crowdbased-Strukturen
  • Fin­tech-Öko­sys­te­me mit rol­lie­ren­den Alli­an­zen, tem­po­rä­ren Ser­vice­part­ner­schaf­ten und flui­den Produktlandschaften
  • Expe­ri­men­tel­le Mikro­netz­wer­ke wie DeFi, die nicht auf Ein­heit, son­dern auf radi­ka­le Koope­ra­ti­on und Dif­fe­renz abzielen

Hier ent­ste­hen Inseln, die bewusst ihre Dif­fe­renz pfle­gen, sich gegen­sei­tig durch­drin­gen, tem­po­rä­re Alli­an­zen ein­ge­hen und aus die­sem krea­ti­ven Aus­tausch Wert generieren.

Die Not­wen­dig­keit des Rahmens

Doch halt: Bedeu­tet archi­pe­li­sches Ban­king völ­li­ge Regel­lo­sig­keit? Kön­nen Finanz­in­seln ohne insti­tu­tio­nel­le Rah­mung exis­tie­ren? Die Geschich­te lehrt uns eines mit bru­ta­ler Klar­heit: Nein. Unre­gu­lier­te Finanz­märk­te füh­ren zu Exzes­sen, Bla­sen, Kri­sen und sys­te­mi­schen Zusam­men­brü­chen. Von der Tul­pen­ma­nie über die Gro­ße Depres­si­on bis zur Finanz­kri­se 2008 – über­all dort, wo Regu­lie­rung fehl­te oder ver­sag­te, folg­te das Chaos.

Archi­pe­li­sches Ban­king kann also nicht Anar­chie bedeu­ten. Es braucht sehr wohl einen Rah­men, Insti­tu­tio­nen, Auf­sicht. Die ent­schei­den­de Fra­ge ist nicht ob regu­liert wird, son­dern wie: Ermög­licht die Regu­lie­rung Viel­falt, Dyna­mik und Bezie­hungs­of­fen­heit – oder erzwingt sie Homo­ge­ni­tät und Kontinentalisierung?

Regu­lie­rung als ermög­li­chen­de Infrastruktur

Die para­do­xe Auf­ga­be wäre es, einen regu­la­to­ri­schen Rah­men zu schaf­fen, der nicht stan­dar­di­siert, son­dern Diver­si­tät schützt. Eine Infra­struk­tur, die nicht alle Inseln auf die­sel­be Form zwingt, son­dern unter­schied­li­che Geschäfts­mo­del­le, Grö­ßen und Phi­lo­so­phien zulässt – solan­ge sie grund­le­gen­de Sicher­heits- und Sta­bi­li­täts­kri­te­ri­en erfüllen.

Das könn­te bedeuten:

  • Pro­por­tio­na­le Regu­lie­rung, die klei­ne, spe­zia­li­sier­te Insti­tu­te nicht mit den­sel­ben Anfor­de­run­gen belas­tet wie sys­tem­re­le­van­te Großbanken
  • Inter­ope­ra­bi­li­täts­stan­dards statt Pro­dukt­stan­dar­di­sie­rung – tech­ni­sche Ver­net­zung ja, inhalt­li­che Gleich­schal­tung nein
  • Expe­ri­men­tier­räu­me (Regu­la­to­ry Sand­bo­xes), in denen neue Model­le unter Auf­sicht erprobt wer­den können
  • Diver­si­täts­prä­mi­en statt rei­ner Ska­len­lo­gik – Aner­ken­nung des sys­te­mi­schen Werts von Viel­falt und Redundanz

Fazit: Archi­pel mit Anker

Spar­kas­sen und Genos­sen­schafts­ban­ken sind kei­ne archi­pe­li­schen Netz­wer­ke, son­dern „Kon­ti­nen­ta­l­in­sti­tu­te”. Ihr Sys­tem reagiert auf Fes­tig­keit, Regel­bin­dung und Ter­ri­to­ri­a­li­tät – nicht auf Offen­heit, dyna­mi­sche Bezie­hung und plu­ra­li­tä­re Emer­genz. Die Fusi­ons­dy­na­mik ver­stärkt die­se Kon­ti­nen­ta­li­sie­rung: Aus vie­len klei­nen Inseln wer­den weni­ge gro­ße Land­mas­sen, aus poten­zi­el­ler Viel­falt ent­steht struk­tu­rel­le Homogenität.

Doch die Alter­na­ti­ve ist nicht Regel­lo­sig­keit. Das archi­pe­li­sche Ban­king der Zukunft braucht sehr wohl Insti­tu­tio­nen und Regu­lie­rung – aber eine, die Viel­falt ermög­licht statt sie ein­zu­schmel­zen. Einen Rah­men, der stark genug ist, um Sta­bi­li­tät zu gewähr­leis­ten, aber durch­läs­sig genug, um Dif­fe­renz und Bezie­hungs­dy­na­mik zuzulassen.

Die eigent­li­che Her­aus­for­de­rung liegt nicht in der Wahl zwi­schen Rege­lung und Frei­heit, son­dern in der Gestal­tung einer Regu­lie­rung, die das Archi­pe­li­sche nicht erstickt. Nicht die Anzahl der Insti­tu­te macht den Archi­pel, son­dern die Qua­li­tät der Ver­bin­dun­gen: offen, expe­ri­men­tell, ambi­va­lent, emer­gent – und doch ver­ant­wor­tungs­voll verankert.

Das Ban­king der Zukunft wird sich fra­gen müs­sen: Wie regu­lie­ren wir Inseln, ohne sie zu Kon­ti­nen­ten zu verschmelzen?