Zur Sitzung des Orientbahnenausschusses im Wiener Bankverein kam der Leiter des Syndikats, Direktor Gwinner von der Deutschen Bank in Berlin. Während der Besprechungen wurden die Wiener Börsenkurse hereingebracht; Gwinner warf einen Blick darauf und sagte: “Diese Narren, da steigen die Orientbahnaktien ‑wir haben noch selten ein schlechteres Jahr gehabt”. Kaum hatte er die Sitzung verlassen, gaben die österreichischen Syndikatsmitglieder Auftrag zum Verkauf eines Teils ihrer Pakete. Einige Monate später kam die Bilanzsitzung mit wesentlich gesteigertem Ertrag und optimistischem Geschäftsbericht; die von den österreichischen Syndikatären abgeworfenen Stücke waren von der Deutschen Bank gekauft worden. Morawitz verstand meine Aufregung nicht. “Geschieht uns ganz recht, wenn wir auf einen Bluff hereinfallen”. – “Aber das ist Betrug an den Partnern”. – “Sie Kind, macht es dem Jäger nicht mehr Freude, einen erfahrenen Bären zu schießen als einen jungen Hasen?. Verstehen Sie das nicht?” – “Nein, das werde ich nie verstehen. Es ist nicht nur unfair, es ist dumm” – “Warum?” – “Weil es das Vertrauen der Gruppe ruiniert. Der Kaufmann hat heute mit dem Zeitgeist zu kämpfen, er muss das volle Vertrauen zur höchsten Ehrenhaftikgeit seiner Berufsgenossen haben, wenn er sich oben halten will”. – Sie mögen damit recht haben. Ich lasse ja, wie Sie wissen, alle meine Partner und meine Aktionäre mit mir verdienen und stehe damit allein. Unsere Industriellen benützen ihre frühzeitigen Kenntnisse dazu, ihre eigenen Aktionäre im geeigneten Moment auszurauben. Das gehört zur Routine, in Berlin und Paris, aber besonders hier in Budapest. Vielleicht rächt es sich eines Tages. Aber verdienen die Menschen, mit denen wir zu tun haben, bessere Behandlung? In einem von zehn Fällen verlieren unsere Klienten durch meinen Rat, und das tragen Sie mit ihr Leben lang nach; in neun Fällen verdienen sie – und haben es am nächsten Tag vergessen”.
Quelle: Felix Somary. Erinnerungen aus meinem Leben