Von Ralf Keuper
Eine Fra­ge, die hier­zu­lan­de vie­le von uns umtreibt, ist, wor­aus die Zau­ber- bzw. Erfolgs­for­mel des Sili­con Val­ley besteht. Da schei­nen fast schon über­mensch­li­che, meta­phy­si­sche Kräf­te am Werk zu sein; anders ist es kaum zu erklä­ren, wie es einer von der Son­ne ver­wöhn­ten Regi­on im Wes­ten der USA seit Jah­ren, Jahr­zehn­ten gelingt, uns immer wie­der mit neu­en Pro­duk­ten, genannt sei­en nur das iPho­ne und der Tes­la, eben­so wie mit “dis­rup­ti­ven” Geschäfts­mo­del­len (Uber, AirBnb) ins Stau­nen zu ver­set­zen; nicht sel­ten nach einer Pha­se hef­tigs­ter Ablehnung. 
Mario Her­ger, gebür­ti­ger Öster­rei­cher, lang­jäh­ri­ger Ent­wick­lungs­lei­ter von SAP und seit 2001 im Sili­con Val­ley wohn­haft, wo er ein eige­nes Unter­neh­men gegrün­det hat, hebt in dem Buch Das Sili­con Val­ley Mind­set den Schlei­er, der sich über die Jah­re auf das Sili­con Val­ley gelegt und nicht sel­ten zu des­sen Mys­ti­fi­zie­rung geführt hat. Ziel ist es, uns Euro­pä­ern das Mind­set des Sili­con Val­ley näher zu brin­gen und zu zei­gen, was wir davon ler­nen und wie wir unse­re Stär­ken damit ver­bin­den können. 
Das wesent­li­che Merk­mal des Sili­con Val­ley Mind­set besteht in der Bevor­zu­gung dis­rup­ti­ver gegen­über inkre­men­tel­len Inno­va­tio­nen. Her­ger schreibt:
Inkre­men­tel­le Inno­va­ti­on wird vor allem von Exper­ten durch­ge­führt. Von Spe­zia­lis­ten, die sich in der Mate­rie sehr gut aus­ken­nen und sie opti­mie­ren kön­nen. Die Abgas­wer­te eines Die­sel­mo­tors immer mehr zu redu­zie­ren, den Pro­duk­ti­ons­pro­zess um zehn Pro­zent effi­zi­en­ter zu machen, die War­te­zei­ten vor dem Fahr­kar­ten­schal­ter um 20 Sekun­den zu redu­zie­ren, dazu benö­tigt man Expertise.

Dis­rup­ti­ve Inno­va­ti­on wird aber vor allem von Nicht­ex­per­ten geschaf­fen und über­rascht des­halb oft die eigent­li­chen Exper­ten. Wei sie gut erklä­ren kön­nen, war­um etwas nicht klap­pen wird, sind die völ­lig ver­blüfft, wenn jemand einen kom­bi­nier­ten, inno­va­ti­ven Ansatz hat, der die Rah­men­be­din­gun­gen ändert. Dar­um wer­den die­se Ansät­ze von den Exper­ten so lan­ge igno­riert, bis es zu spät ist. 

Noch immer hal­ten vie­le “Exper­ten” die Elek­tro­au­tos von Tes­la eben­so wie Selbst­fah­ren­de Autos für einen Hype. Wie kön­nen Nicht-Inge­nieu­re, Nicht-Exper­ten es über­haupt wagen, eine Indus­trie her­aus­zu­for­dern, die seit Jahr­zehn­ten mit dem Ver­bren­nungs­mo­tor und dem Mot­to “Aus Freu­de am Fah­ren” von Absatz­re­kord zu Absatz­re­kord (wir las­sen jetzt mal das The­ma Eigen­zu­las­sun­gen außen vor) eilt?  Ganz ein­fach: Weil sie das Pro­blem anders ange­hen bzw. anders interpretieren:

Auto­mo­bil­her­stel­ler und Trans­port­dienst­leis­ter sehen sich seit gerau­mer Zeit von Sili­con-Val­ley-Fir­men unter Druck gesetzt. Fir­men wie Tes­la Motors, Goog­le, Apple oder das mitt­ler­wei­le dicht­ge­mach­te Bet­ter Place brin­gen dis­rup­ti­ve Tech­no­lo­gien auf den Markt. Uber, Lyft und ande­re Ridesha­ring-Platt­for­men ändern die Art, wie wir Trans­port­dienst­leis­tun­gen erle­ben. Was die­se Fir­men von tra­di­tio­nel­len Auto­mo­bil­bau­ern unter­schei­det, sind die Hin­ter­grün­de der Fir­men­grün­der. Sie kom­men alle aus dem Soft­ware­sek­tor und betrach­ten die Pro­ble­me als Soft­ware­pro­blem. Die Wert­schöp­fung liegt nicht mehr so sehr im “Ver­bie­gen von Blech”, son­dern im Pro­gram­mie­ren von Softwarecode.

Die Auto­mo­bil­her­stel­ler haben laut Her­ger noch nicht rea­li­siert, dass für die meis­ten Men­schen Fah­ren, d.h. die Bedie­nung eines Autos, Zeit­ver­schwen­dung ist und kei­nes­wegs zur Erbau­ung beiträgt:

Ein Auto soll zwi­schen­mensch­li­che Ver­bin­dun­gen in der phy­si­schen Welt ermög­li­chen. Das Auto ist ein “Con­nec­tor”. Ich fah­re nicht in die Stadt, weil ich Freu­de am Fah­ren habe, son­dern weil ich mich mit Freun­den tref­fe. … Ein iPho­ne ist ein vir­tu­el­ler Con­nec­tor zwi­schen Men­schen. Wenn ich mit dem Auto fah­ren muss, kann ich mich in die­sem Moment nicht mit ihnen ver­bin­den, weil ich auf den Ver­kehr ach­ten muss. 

Die Dia­gno­se gilt in wei­ten Tei­len auch für die Ban­ken­bran­che. Auch hier glau­ben vie­le noch immer, dass die Men­schen eine Filia­le aus rei­ner Freu­de an der Begeg­nung mit dem Kun­den­be­ra­ter ihres Ver­trau­ens und der gelun­ge­nen Innen­ar­chi­tek­tur, ja über­haupt der ein­zig­ar­ti­gen Per­for­mance wegen, auf­su­chen. Eben­so hart­nä­ckig hält sich die Über­zeu­gung, das eige­ne Geschäft bestehe nach wie vor aus der Fris­ten­trans­for­ma­ti­on von Ein­la­gen und Dar­le­hen. Es wird eif­rig an der Ver­bes­se­rung der Effi­zi­enz, an der Opti­mie­rung der eige­nen Abläu­fe, an inkre­men­tel­len Inno­va­tio­nen gebas­telt, wäh­rend sich die Kun­den auf ande­ren Platt­for­men bewe­gen, die mehr Mög­lich­kei­ten zur Ver­net­zung, zum Infor­ma­ti­ons­aus­tausch und zur Unter­hal­tung bieten. 
Her­ger geht auf den Bereich Fin­tech in sei­nem Buch nur am Ran­de ein. Erwähnt wer­den u.a. Squa­re, Pay­Pal, Len­ding Club und Wes­tern Union. 
Am Bei­spiel von Wes­tern Uni­on wird für Her­ger deut­lich, dass auch Ban­ken bzw. Finanz­dienst­leis­ter mit der rich­ti­gen Ein­stel­lung vom Sili­con Val­ley Mind­set pro­fi­tie­ren können. 
Auch in Euro­pa greift das Sili­con Val­ley Mind­set um sich, wie in Ber­lin; aber auch in Finn­land, wo nach dem Nie­der­gang von Nokia aus des­sen nähe­rem Umfeld zahl­rei­che Start­ups ent­stan­den sind. Der wesent­li­che Unter­schied zwi­schen der ame­ri­ka­ni­schen, und hier ins­be­son­de­re der kali­for­ni­schen, Men­ta­li­tät und der euro­päi­schen besteht laut Her­ger dar­in, dass die Ame­ri­ka­ner äuße­ren Ein­flüs­sen eine weit­aus gerin­ge­re Wir­kung auf den Erfolg im Leben ein­räu­men, als dass in Euro­pa der Fall ist.
Fakt ist, dass Euro­pa in vie­len Tech­no­lo­gie­be­rei­chen den Anschluss ver­lo­ren hat und dabei ist, die Digi­ta­le Sou­ve­rä­ni­tät zu ver­lie­ren. Dass wir in Euro­pa einen neu­en Grün­der­geist benö­ti­gen, dürf­te inzwi­schen Kon­sens sein. Die Fra­ge ist nur, ob unser Wirt­schafts- und Gesell­schafts­sys­tem, unser Wirt­schafts­stil hier­für geeig­net ist. Zu den Stär­ken zäh­len unser Bil­dungs- und Gesund­heits­sys­tem. Was müs­sen wir auf­ge­ben und was gewin­nen wir dadurch? Soll­ten wir jetzt das Sili­con Val­ley zu kopie­ren ver­su­chen, wie damals die japa­ni­sche Indus­trie mit ihrem Lean Manage­ment? Wel­che Kom­po­nen­ten des Sili­con Val­ley Mind­set las­sen sich mit dem euro­päi­schen kom­bi­nie­ren? Ein Mit­tel ist sicher­lich der rege Infor­ma­ti­ons­aus­tausch mit dem Sili­con Val­ley, wie über sog. Brü­cken­or­ga­ni­sa­tio­nen (Ger­man Acce­le­ra­tor) und sog. Out­posts (SAP Labs in Palo Alto), kurz­um: Mehr Offen­heit gegen­über einem Mind­set, der bereit ist, die Din­ge in einem ande­ren, neu­en Licht zu betrach­ten und sich nicht von alt­her­ge­brach­ten Stan­dards und sog. Exper­ten­mei­nun­gen ein­schüch­tern lässt. 
Für sich selbst beschreibt Her­ger sein Credo:

An mei­nem 40. Geburts­tag wur­de mir klar, dass ich maxi­mal noch 40 Jah­re zu leben habe. Und die woll­te ich nicht mit Din­gen ver­geu­den, die kei­nen Spass machen, und auch nicht mit Men­schen ver­brin­gen, die mir durch ihre Nega­ti­vi­tät wert­vol­le Ener­gie rau­ben. Ich woll­te mich mit Leu­ten umge­ben, die Ideen zum Woh­le der Mensch­heit haben und die­se Ideen auch umset­zen, die eine posi­ti­ve Ein­stel­lung zum Leben haben und Ener­gie ausstrahlen.

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